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Von dem metallischen Platin, von welchem man weiss, dass es Sauerstoffgas an seiner Oberfläche verdichtet und in den eigenthümlichen Zustand versetzt, in welchem es sich bei Gegenwart von Wasserstoffgas bei gewöhnlicher Temperatur zu Wasser mit schwefliger Säure zu rauchender Schwefelsäure verbindet, kann man mit einiger Wahrscheinlichkeit voraussagen, dass es den Sauerstoff ebenfalls in ozonisirten überführt, mit dem Unterschiede jedoch, dass derselbe stärker von dem Metall gebunden ist, als in den genannten Flüssigkeiten; für sich ist der ozonisirte Sauerstoff nicht oder kaum im Wasser löslich; es erklärt sich vielleicht hieraus der überraschende und leicht anzustellende Versuch der Ueberführung des Ammoniakgases in salpetrigsaures Ammoniak.

Führt man nämlich in eine mit Luft erfüllte Flasche, in die man einige Tropfen kaustisches Ammoniak gegossen und damit geschüttelt hat, einen schwach (nicht sichtbar) glühenden spiralförmig gewundenen Platindraht, so bilden sich in wenigen Augenblicken weisse Nebel von salpetrigsaurem Ammoniak, welche die Flasche trüb und undurchsichtig machen; giesst man jetzt in die Flasche etwas verdünnte Schwefelsäure und mit Jodkaliumlösung versetzten Stärkmehlkleister, so färbt sich dieser in Folge der Wirkung der durch Oxydation des Ammoniaks gebildeten salpetrigen Säure auf das Jodkalium augenblicklich indigblau.

Eine Erklärung dieser merkwürdigen Umwandlung in den Eigenschaften des Sauerstoffs kann auf dem gegenwärtigen Standpunkt der Wissenschaft noch nicht versucht werden, allein die Thatsache steht fest, dass nicht nur zusammengesetzte Stoffe, welche die nämlichen Elemente in gleichen Gewichtsverhältnissen enthalten, ihren Eigenschaften nach als zweierlei Materien erscheinen können, sondern auch Körper von denen wir, wie beim Sauerstoff, nicht den entferntesten Grund haben sie für zusammengesetzt zu halten.

Der Sauerstoff, der Phosphor, so wie viele andere Körper, die für einfach gelten, haben für uns doppelte Gesichter; in ihren verschiedenen Zuständen sind sie chemisch und physikalisch grundverschiedene Dinge. Wir nehmen an, dass die Wirkung, welche ein Körper auf unsere Sinne ausübt, wodurch er sich als das Ding giebt was es ist und sich von andern unterscheidet, von Kräften herrühre, und man kann hier wohl fragen, ob diese Kräfte quantitativ einer Veränderung fähig oder qualitativ verwandelbar sind?

Während alle chemischen und die meisten physikalischen Eigenschaften eines Körpers, wie wir vom Sauerstoff und Phosphor wissen, wandelbar sind, ist, worauf Faraday aufmerksam gemacht hat, nur eine einzige keines Wechsels fähig und dies ist das Gewicht, welches ein Körper besitzt; welche Veränderungen auch mit einem Körper vorgehen mögen, in allen Formen und Verbindungen trägt das Molecul sein Gewicht mit sich; die Schwerkraft ist die einzige Naturkraft, welche von der Materie untrennbar und unveränderlich gedacht werden muss. Wäre sie verrwandelbar, so würde der Chemiker und Physiker die Möglichkeit vor sich sehen, die Atome des Erdballs in den Weltraum zerfliessen zu machen. In welch einer seltsamen Lage befindet sich durch die Thatsachen die gegenwärtige Wissenschaft den alten Philosophen und der Alchemie[1] gegenüber. Die ersteren lehrten, dass die Eigenschaften der

  1. WS: korrigiert, im Original: Alehemie
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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 119. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_119.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)