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die wie die Lunge z. B. sich unmittelbar in Berührung mit der Luft befanden; bei Verwundungen verbreitet er sich von der Wunde, in Krankheiten von dem kranken Orte aus, so zwar, dass der Tod in vielen Fällen nichts anderes als die Folge eines an einem inneren Theile vor sich gehenden Zersetzungsprocesses ist; mit der Krankheit, deren nächste Ursache derselbe ist, beginnt dieser Process und dauert nach dem Tode fort.

Das Bemerkenswertheste in diesen Erscheinungen ist ohnstreitig, dass in vielen Fällen die in den organischen Stoffen eingetretene Veränderung fortdauert, wenn nach vorübergehender Berührung mit der Luft der Sauerstoff völlig abgeschlossen wird. Der Most fährt auch in verschlossenen Gefässen fort zu gähren, der gährende Wein zersprengt häufig in der Champagnerfabrication die stärksten Flaschen; die Milch gerinnt auch in zugeschmolzenen Gefässen und wird sauer.

Es ist offenbar, dass durch die Berührung dieser organischen Stoffe mit dem Sauerstoff der Luft ein Process beginnt, in dessen Verlauf ihre Bestandtheile eine gänzliche Umänderung ihrer Eigenschaften erfahren. Dieser Wechsel der Eigenschaften ist eine Folge einer Aenderung in ihrer Zusammensetzung. Vor der Berührung mit dem Sauerstoff befinden sich ihre Bestandtheile neben einander gelagert, ohne eine Wirkung auf einander auszuüben; durch den Sauerstoff wurde in einem kleinen Theilchen derselben der Zustand der Ruhe oder des Gleichgewichts der Anziehung, welche ihre Elemente zusammenhält, gestört, und in Folge dieser Störung trat eine Spaltung, eine neue Ordnung zwischen diesen Elementen ein.

Die Fortdauer dieser Processe, auch wenn der Sauerstoff, die ursprüngliche Bedingung zu ihrer Entstehung, nicht mehr mitwirkt, zeigt auf’s Klarste, dass der Zustand der Umsetzung, welcher in den Elementen eines kleinen Theilchens eingetreten ist, einen Einfluss ausübt auf die übrigen Theilchen, welche mit dem Sauerstoff der Luft nicht in Berührung gekommen waren; denn nicht bloss die ersten, sondern auch alle anderen erleiden allmählich dieselbe Zersetzung.

Ein jeder Zersetzungsprocess, der in einem Theil eines organischen Körpers durch eine äussere Ursache beginnt, und der sich mit oder ohne deren weitere Mitwirkung durch seine ganze Masse verbreitet, hat den Namen Fäulnissprocess erhalten. Eine der Fäulniss fähige Materie unterscheidet sich demnach von einer der Fäulniss unfähigen in so fern, als die erstere, ohne andere Bedingungen als eine angemessene Temperatur und die Gegenwart von Wasser, in eine Reihe von neuen Producten zerfällt, während die andere für sich unter denselben Umständen keine Veränderung erfährt.

Die Anzahl der in der Natur vorkommenden, nach dieser Begriffsbestimmung fäulnissfähigen Substanzen ist ausserordentlich klein, aber sie sind überall verbreitet, sie machen Bestandtheile aller organischen Wesen aus. Vor allen anderen gehören hierzu die höchst zusammengesetzten Stoffe des Thier- und Pflanzenreichs, welche Stickstoff und Schwefel enthalten.

Der Harnstoff, Zucker, Milchzucker, das Asparagin, Amygdalin, die verschiedenen organischen Säuren erleiden unter denselben Verhältnissen, im reinen Zustande, keine wahrnehmbare Veränderung; Zuckerwasser

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 131. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_131.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)