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Das flüchtige Bittermandelöl braucht zu seiner Auflösung dreissig Theile Wasser, die anderen Producte bedürfen weniger. Setzt man nun der Mandelmilch so viel Amygdalin hinzu, dass auf dreissig Theile Wasser nicht mehr als ein Theil des erzeugten Bittermandelöls kommt, so verschwindet alles Amygdalin; setzt man der Mischung mehr Amygdalin hinzu, so erleidet dies keine weitere Veränderung mehr. Man sieht leicht, dass die chemische Verwandtschaft des Wassers (sein Lösungsvermögen) in diesem Zersetzungsprocess eine Rolle spielt; seine Anziehung zu einem der Producte wirkt als eine Ursache der Umsetzung mit ein. Da nun der weisse Bestandtheil der bittern Mandeln ganz identisch ist mit dem Pflanzenkäse der süssen Mandeln, so sieht man leicht ein, dass das Bestehen des Amygdalins in den Mandelkernen lediglich an die Menge der darin enthaltenen Feuchtigkeit gebunden ist. Eine der kleinen Menge Wasser in dem Kerne entsprechende Menge Amygdalin ist darin nur seinen Producten nach da; werden die Kerne fein zerstossen mit mehr Wasser zusammengebracht, in Mandelmilch z. B. verwandelt, so nimmt mit der Menge des zugesetzten Wassers der Amygdalingehalt ab, bis er dann zuletzt, bei mehr Wasser, völlig verschwindet.

Das Verhalten des Amygdalins und des weissen, käseähnlichen Bestandtheils der Mandelkerne gewinnt ein noch höheres Interesse, wenn man sich erinnert, dass die Gegenwart von Amygdalin in den Kernen von dem zufälligen Standorte des Baumes abhängig ist. Zwischen zwei Bäumen, von denen der eine süsse, der andere bittere Mandeln trägt, haben die Botaniker keine wahrnehmbare Verschiedenheit gefunden. Es sind Fälle bekannt, wo das einfache Versetzen einen Baum süsse Mandeln tragen machte, der vorher bittere Mandeln lieferte; gewiss eines der interessantesten Beispiele des Einflusses, den gewisse Bestandtheile im Boden auf den Lebensprocess der Pflanzen ausüben.

Der Einfluss, welchen die Gegenwart von Wasser auf die Existenz gewisser organischer Verbindungen ausübt, geht aus den angeführten Thatsachen zur Genüge hervor; es giebt noch eine Menge anderer, welche zu viel Interesse darbieten, als dass sie hier übergangen werden könnten.

Jedermann weiss, dass gepulverter schwarzer Senf, mit Wasser zu einem Brei angerührt, nach wenigen Minuten eine Mischung giebt, welche auf die Haut eine ausserordentlich reizende, ja Blasen ziehende Wirkung äussert. Diese Wirkung rührt von einem flüchtigen, sauerstofffreien, schwefelhaltigen Oele her, welches man durch Destillation mit Wasser, ganz wie das Bittermandelöl aus bittern Mandeln, gewinnen kann.

Diesem Oele verdankt der gewöhnliche Tafelsenf seinen Geruch und Geschmack; im reinsten Zustande ist es von furchtbarer Schärfe.

In dem Senfsamen ist nun keine Spur von diesem Oele enthalten, das daraus gepresste fette Oel ist mild und ohne Schärfe; das flüchtige Oel entsteht aus einem nicht scharfen, schwefel- und stickstoffreichen Körper, der durch die Wirkung des in den Samen enthaltenen Pflanzenkäses, beim Hinzubringen einer hinreichenden Menge Wassers, augenblicklich eine Umsetzung erfährt; das flüchtige Senföl ist eins der aus seinen Elementen hervorgehenden neuen Producte.

Aehnlich wie der Pflanzenkäse in den Samen der Senfpflanze und des Mandelbaums durch den Zustand der Umsetzung, in den er bei

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 140. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_140.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)