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von gewissen flüssigen und festen Bestandtheilen desselben, und es ist die Erforschung dieser Vorgänge, so weit sie unabhängig von der Form gedacht werden können, in welcher die Chemie der Physiologie Hülfe leisten soll.

Es ist einleuchtend, dass die Physiologie zwei Grundlagen hat, und dass durch die Verschmelzung der physiologischen Physik, deren Grundlage die Anatomie ist, mit der physiologischen Chemie, welche sich auf die Thierchemie stützt, eine neue Wissenschaft hervorgehen muss, eine eigentliche Physiologie, die sich zu der Wissenschaft, welche gegenwärtig diesen Namen trägt, verhalten wird wie die heutige Chemie zu der des vorigen Jahrhunderts.

Um sich von dem Einfluss des Ineinandergreifens der Chemie und Physiologie eine richtige Vorstellung zu machen, muss man sich an ähnliche Vorgänge in der Wissenschaft erinnern. So ist der Charakter der gegenwärtigen Chemie wesentlich dadurch bedingt worden, dass sie ganze Zweige der Physik in sich aufnahm, die jetzt aufgehört haben, der Physik anzugehören. Das specifische Gewicht der Körper im Gaszustand wurde vor 40 Jahren noch als rein physikalische Eigenschaft angesehen. Seitdem man aber weiss, dass diese Eigenschaft in einem bestimmten Verhältniss abhängig ist von der Zusammensetzung, gehört die Lehre von der Dichtigkeit der Körper im Dampfzustand der Chemie an. Eine ähnliche Beziehung hat sich herausgestellt zwischen der specifischen Wärme, der Ausdehnung durch die Wärme, dem Siedepunkt, der Krystallgestalt der Körper und ihrer Zusammensetzung, und es ist jetzt vorzugsweise die Chemie, die sich mit der genaueren Erforschung dieser Verhältnisse beschäftigt. Die Lehre von der Elektricität, insofern sie als die Folge einer Form- und Beschaffenheitsänderung auftritt, ist beinahe ganz in das Gebiet der chemischen Lehren übergegangen.

In ganz ähnlicher Weise wird die genauere Bekanntschaft mit den Lebenserscheinungen die Ueberzeugung befestigen, dass eine Menge physiologischer Eigenschaften abhängig sind von der chemischen Zusammensetzung, und es wird die Physiologie, wenn sie die Thierchemie in sich aufgenommen hat, die Mittel besitzen, um dieses Abhängigkeits-Verhältniss zu erforschen; sie wird damit in den Stand gesetzt sein, einen richtigeren Ausdruck für die physiologischen Erscheinungen zu finden.

Es ist längst versucht worden, die vitalen Erscheinungen nach chemischen Grundsätzen ausschliesslich zu erklären und die Physiologie zu einem Theil der Chemie zu machen; dies geschah schon vor Jahrhunderten, zu einer Zeit, wo man die chemischen Vorgänge im Körper genauer als den Organismus selbst kannte. Als man später den wunderbaren Bau, die Form und Beschaffenheit der Organe und ihr Zusammenwirken durch ein genaueres Studium der Anatomie kennen gelernt hatte, da glaubte man den Schlüssel zur Erklärung in gewissen Principien der Mechanik gefunden zu haben.

Alle diese Versuche sind gescheitert und ihr Misslingen begründet die Selbstständigkeit der Physiologie.

Die Mineralogie befand sich der Chemie gegenüber in einem ähnlichen Verhältniss; vor 40 Jahren noch erklärten sie Viele für einen Theil der Chemie, man reihte die zusammengesetzten Mineralien in die

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 171. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_171.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)