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bestimmten mechanischen Gesetzen vor sich gehen, sind sie verführt zu glauben, dass sie von denselben Ursachen bedingt sind, wie die ähnlichen Bewegungserscheinungen, welche wir ausserhalb des Körpers wahrnehmen. Keiner hat aber bis jetzt nur den Versuch gewagt, die Beziehungen dieser Wirkungen zur Wärme, Elektricität, magnetischen Kraft etc. zu bezeichnen, oder das Verhältniss ihrer Abhängigkeit von diesen Kräften nachzuweisen. Alles, was man davon weiss, ist, dass die unorganischen Kräfte an diesen Wirkungen einen gewissen Antheil haben.

Auf der anderen Seite ist es ganz unmöglich, die Meinungen der Vitalisten zu theilen, welche glauben, die Geheimnisse des Lebens durch die Annahme einer oder mehrerer Lebenskräfte erklären zu können; sie nehmen eine Erscheinung, ohne vorher zu untersuchen, ob sie einfach oder zusammengesetzt ist; sie fragen, ob dieselbe durch die chemische Affinität, durch die elektrische oder magnetische Kraft erklärt werden kann, und da es im gegenwärtigen Augenblick unmöglich ist, diese Frage, gestützt auf unzweifelhafte Beweise, zu bejahen, so schliessen sie daraus, die Erscheinung sei durch keine von diesen, sondern durch ganz besondere, den belebten Wesen eigenthümliche Kräfte bedingt[1]. Aber in der Aufsuchung der Ursachen von Erscheinungen ist die Methode der Ausschliessung nur in den Fällen gestattet, in welchen man die Gewissheit hat, dass die Anzahl der Ursachen, auf welche die Wirkung bezogen werden kann, fest bestimmt ist, und dass man beweist, dass die Wirkungen von allen diesen Ursachen nur einer einzigen angehören.

Die physikalischen Kräfte sind ihrem Wesen nach sehr wenig bekannt, und Niemand kann behaupten, dass eine derselben wirkungslos in einem gegebenen Falle sei, dass sie an irgend einer Lebenserscheinung keinen Antheil habe. Man hat zwischen den elektrischen Kräften und der chemischen Affinität den wunderbarsten Zusammenhang wahrgenommen; aber wir sind noch weit davon entfernt, die Beziehungen zwischen beiden mit Sicherheit zu kennen. Die Cohäsion oder die Ursache des Zusammenhangs gleichartiger Atome ist uns ihrem Wesen nach am wenigsten bekannt und ihre Beziehungen zur Affinität sind uns noch dunkeler, als die der letzteren zu den elektrischen Kräften. Die Affinität ist für uns im gegenwärtigen Augenblick die Ursache, der wir die Verbindung ungleichartiger Atome unmittelbar zuschreiben; aber die gegenseitige Anziehung der nämlichen Körper bleibt sich nicht gleich, und es ist unmöglich, diese Kraft für sich allein zu betrachten, weil sie nie allein thätig ist und weil wir, um eine ihrer Wirkungen richtig zu beurtheilen, genöthigt sind die Umstände zu berücksichtigen, die Temperatur, Cohäsion, den elektrischen Zustand etc., in welchen sich die Körper befinden.

Wir haben in der neueren Zeit eine grosse Anzahl von Erscheinungen kennen gelernt, von denen wir kaum wissen, welche von allen den bekannten Ursachen daran Theil haben. In früherer Zeit würde man sich beeilt haben, die Existenz ganz besonderer, bis dahin unbekannter Kräfte daraus zu folgern; wir thun dies nicht, weil wir unserer Unwissenheit in Beziehung auf die Eigenthümlichkeiten der bekannten, namentlich der sogenannten Molecularkräfte, der Cohäsion und Affinität, uns bewusst sind.

Wenn man in ein gewöhnliches Champagnerglas eine in der Wärme gesättigte Lösung von Glaubersalz in Wasser (2 Theile Glaubersalz auf

  1. WS: korrigiert. Im Original: hedingt
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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 176. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_176.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)