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dass der Wille eines durch Laufen oder schwere Arbeit ermüdeten Menschen auch auf das Werkzeug des Denkens, das Gehirn von seiner Macht verliere; von einem Stoffwechsel im Gehirn, welcher Gedanken erzeuge, weiss die Naturforschung absolut nichts; alles was wir wissen, reducirt sich auf die triviale Wahrheit, dass ein Kopf ohne Gehirn weder denkt noch empfindet.

Durch die Elektricität erzeugen wir Magnetismus und Wärme, durch Magnetismus erzeugen wir Elektricität und Wärme, eine jede dieser Kräfte ist verwandelbar in ein Aequivalent mechanischer Kraft; sie haben sicherlich Antheil an allen Vorgängen im Organismus, an allen materiellen Veränderungen in der Substanz der Körpertheile, allein es ist unmöglich anzunehmen, dass Kräfte, welche einen Druck oder Zug, eine Abstossung oder eine Anziehung, eine Ausdehnung oder einen Ortswechsel erzeugen, für sich oder in ihrem Zusammenwirken Selbstbewusstsein hervorbringen; wäre dies der Fall, so müssten nach dem Gesetz der Erhaltung der Kraft und ihrer Unzerstörlichkeit, durch die Gedanken Lasten bewegt oder Magnetismus, oder Elektricität oder Wärme erzeugt werden können. Wären die Geistesthätigkeiten Folgen und nicht Ursachen materieller Veränderungen, so müssten Bewusstsein und Stoffwechsel in gleichem Verhältnisse zu einander stehen, wir müssten der Abhängigkeit uns bewusst werden, während wir das Gefühl der Freiheit in uns tragen.

Die Naturforscher, welche die Gesetze des organischen Lebens wirklich kennen lernen wollten, und gewahrten, dass physikalische und chemische Kräfte in ihm walteten, richteten natürlich auf diese als auf das auch sonst Bekannte ihr Augenmerk; sie sahen zunächst von anderen Kräften ab, um zu ergründen, wie weit Physik und Chemie für die Erklärung des Lebens und seiner Vorgänge ausreichten; wo sie unzugänglich sind, da tritt das Wirken eines neuen noch unbekannten Princips ein, das dann sogleich umgrenzt und näher bestimmt ist. Diese Methode der Ausschliessung haben viele Leute nicht gekannt, nicht verstanden, und so kam es, dass sie glaubten, eine eigenthümliche in den Organismus wirkende, von den physikalischen und chemischen Kräften verschiedene Ursache werde von den Männern verworfen, welche die physikalischen und chemischen Bedingungen des Lebens festzustellen suchten.

Um gegen die Apostel des Materialismus nicht ungerecht zu sein, muss man in Betracht ziehen, dass ihre Ansichten im Wesentlichen nichts weiter sind als die extreme Folge von einer Reaction gegen die vor mehreren Jahren noch herrschenden Lehren. Die naturphilosophische Physiologie entbehrte die Basis der exacten Forschung, der Erfahrung; alle Vorgänge der Ernährung, der Respiration, der Bewegung erklärte sie durch eine einzige eingebildete Ursache, die sie Lebenskraft nannte; in dem organischen Körper, so meinte man, haben die chemischen und physikalischen Kräfte keinen Antheil, er erzeuge sich das Eisen, das er brauche, wie die Wärme, auf seine eigene Weise. Die exacte Naturforschung hat dargethan, dass alle Kräfte der Materie wirklich Antheil haben an dem organischen Process, und die extreme Reaction behauptet jetzt, im Gegensatz zu der früheren Ansicht, dass nur die chemischen und physikalischen Kräfte die Lebenserscheinung bedingen, dass überhaupt keine andere Kraft im Körper wirke. Aber eben so wenig wie die Naturphilosophen

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 187. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_187.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)