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verzehrt, so dass also letzterer nicht, wie ein Messer, womit ein Mensch getödtet worden ist, ungeändert zurückbleibt.

Es ist also unmöglich, nach der Verbrennung zu beurtheilen, wie viel Brennmaterial vor derselben vorhanden war, denn das, was übrig davon blieb, ist nur ein Theil vom Ganzen, was gewirkt hat, und gerade der Theil verschwindet, indem er sich verzehrt, der die Wirkung hervorbringt.

Was die Schriftsteller betrifft, welche die Selbstverbrennung vertheidigen, oder die Gewissenhaftigkeit und Zuverlässigkeit ihrer Angaben, so muss vor allem Andern ihre Urtheilsfähigkeit ins Auge gefasst werden Die Urtheilsfähigkeit setzt als nothwendige Vorbedingung voraus, dass sie die erforderlichen Kenntnisse dazu haben; sie müssen wissen, was eine Verbrennung überhaupt ist und was dabei vor sich geht, dann, dass sie Fälle der Verbrennung beobachtet, und wirklich den aufrichtigen Vorsatz haben, den Vorgang und Alles auszumitteln, was dazu dienen kann, um das Ereigniss zu erklären, ohne alle vorgefasste Meinung.

Wenn man nach diesem Massstab die Glaubwürdigkeit der Schriftsteller über Selbstverbrennung beurtheilt, so bleibt von Allem was sie behaupten und meinen, Nichts weiter übrig, als die Erzählung eines Todesfalls oder einer Anzahl von Todesfällen durch Verbrennung. Ich habe bereits erwähnt, dass keiner derselben dem Vorgang einer solchen Verbrennung beigewohnt hat, sie nehmen die Fälle, die sie erzählen, entweder aus unverbürgten Zeitungsnotizen, oder sie erzählen sie andern Erzählern nach, die ebenfalls keinen dieser Fälle beobachtet haben; alle ohne Ausnahme nehmen die Meinung, dass die Selbstverbrennung existire, als wahr an; was sie beschäftigt, ist nicht zu prüfen, sondern zu zeigen, wie das Ereigniss vor sich ging, das sie natürlich nicht gesehen haben.

An diesen Gründen erkennt man deutlich, auf welcher Stufe der Ausbildung diese Männer stehen und wie wenig sie geeignet sind, ein gültiges Urtheil über diese Vorgänge auszusprechen. In der Regel werden von ihnen die von Andern erzählten, in der Art, wie sie sich ereigneten, unverbürgten Fälle benutzt, um eine von ihnen erfundene Theorie zu stützen; das, was in den Erzählungen für die Theorie spricht, wird hervorgehoben und alles Andere was sie bestreitet oder widerlegt, wird entweder gar nicht angeführt oder als untergeordnet bezeichnet; sie sind nicht Erforscher der Existenz und der Wahrheit der Selbstverbrennung, sondern Advocaten für die Meinung der Selbstverbrennung.

Man kann sich nicht darüber wundern, dass es vor 50 oder 100 Jahren ausgezeichnete Aerzte gab, welche an die Selbstverbrennung des menschlichen Körpers glaubten und sie vertheidigten, zu einer Zeit, wo man das Wesen und die Natur der Verbrennung überhaupt nur unvollkommen kannte; aber die heutigen schriftstellernden Verbreiter dieser Ansicht sind in ihrer Mehrzahl Männer, deren Berechtigung zur Beurtheilung, deren Urtheilsfähigkeit, Beobachtungsgabe oder die hierzu nöthigen Kenntnisse durch gediegene Arbeiten oder Untersuchungen in ihrer Wissenschaft keineswegs bethätigt sind, deren Namen man nur kennt, weil sie als Vertheidiger derselben aufgetreten sind.

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 195. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_195.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)