Seite:De Chemische Briefe Justus von Liebig 250.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.


In dem Leibe des Menschen brachte das Brod, Fleisch und Gemüse eine gleiche Wirkung wie in dem Pferde hervor, aber neben der mechanischen Kraft, welche die Bewegung seiner inneren Organe und seiner Glieder in der Arbeit bedingte, erzeugte die genossene Speise noch eine gewisse Summe von Wirkungen, die sich als Sinnes- oder Geistesthätigkeiten offenbaren.

Wir wissen, dass bei Enthaltung von Nahrung der Körper des Menschen und aller Thiere in jeder Secunde ihres Lebens an Gewicht abnimmt, dass die Abnahme oder das Schwinden seiner wichtigsten Organe in einer gegebenen Zeit im Verhältniss steht zu den durch seine Organe oder Glieder in eben dieser Zeit hervorgebrachten Kraft-Wirkungen, dass durch die Speise das Körpergewicht und das Vermögen, neue Kraftwirkungen hervorzubringen, wieder hergestellt wird, dass im Zustand der Ruhe der Mensch oder das Thier weniger Speise bedarf als im Zustand der Bewegung und Arbeit, und dass es nicht gleichgiltig ist, von welcher Beschaffenheit die Speise sei, welche der Mensch oder das Thier täglich geniessen muss, um die Fähigkeit ungeschmälert wieder zu erlangen, den darauf folgenden Tag die nämliche Arbeit wie am vorhergegangenen zu verrichten, oder die nämlichen Wirkungen durch sein Nervensystem hervorzubringen.

Unzählige seit Jahrtausenden gemachte Erfahrungen haben unzweifelhaft festgestellt, dass die Speisen in Beziehung auf die Erzeugung und Wiederherstellung aller dieser Thätigkeiten höchst ungleich sind, dass das Weizenbrod das Roggenbrod, dieses die Kartoffeln und den Reis, dass das Fleisch der Thiere alle übrigen Nahrungsmittel in Hinsicht auf diese Wirkungen übertrifft, sie haben dargethan, dass ein Pferd, mit Kartoffeln ernährt, nicht entfernt die Arbeit verrichten kann, wie bei Heu- und Hafer-Fütterung, und dass zuletzt die täglich verwendbare Arbeitskraft eines Menschen gemessen werden kann durch die Quantität der plastischen Bestandtheile, die er im Brod und Fleisch geniesst [1].

Es ist augenscheinlich, die plastischen Bestandtheile der Nahrung sind die nächsten Bedingungen der Krafterzeugung im Organismus und aller seiner sinnlichen und geistigen Thätigkeiten.

Wir verstehen diese Wirkungen, wenn wir beachten, dass alle Bewegungserscheinungen im Thierorganismus, alle Wirkungen, die er durch sein Gehirn oder seine Glieder hervorbringt, bedingt oder abhängig sind von den geformten Bestandtheilen desselben, dass die formlosen, wie Wasser und Fett, keine vitalen Eigenschaften besitzen, dass sie ihren Ort oder Lage durch eine in ihnen selbst wirkende Ursache nicht zu ändern vermögen.

  1. Die tägliche Ration an Brod, welche ein Soldat empfängt, beträgt
    in Frankreich 750 Grammen (Weizen)
    in Belgien 775 (Weizen)
    in Sardinien 737 (Weizen)
    in Spanien 670 (Weizen)
    im südlichen Deutschland 900 (⅙ Weizen, 4/6 Roggen, ⅙ Gerste)
    im nördlichen Deutschland und Russland 1000 (Roggen).
Empfohlene Zitierweise:
Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 250. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_250.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)