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Fleischauszuge weder Harnsäure noch Harnstoff entdecken, und es scheint dies anzuzeigen, dass diese Producte des Stoffwechsels, welche zur Excretion bestimmt sind, mit eben der Schnelligkeit hinweggeführt werden, als sie sich bilden. Der Fleischsaft enthält, wie früher bemerkt, eine Chlorverbindung, und zwar nicht Chlornatrium (Kochsalz), sondern vorzüglich Chlorkalium. Es ist dies um so bemerkenswerther, da das Blut, welches in den Muskeln circulirt, verhältnissmässig so reich an Kochsalz ist[1].

Die Fleischflüssigkeit enthält in ihrer Mischung unzweifelhaft die zur Bildung des ganzen Muskels und zur Vermittelung aller seiner Eigenthümlichkeiten nothwendigen Bedingungen, in dem Fleischalbumin die zum Uebergang in Fleischfibrin und in den anderen Bestandtheilen die zur Erzeugung der Bindegewebe und Nerven dienenden Materien.

Der Fleischsaft enthält die Nahrung des Muskels, das Blut die Nahrung des Fleischsaftes; das Muskelsystem ist die Quelle aller Kraftwirkungen im thierischen Körper, und es kann in diesem Sinne der Fleischsaft als die nächste Bedingung der Krafterzeugung angesehen werden.

Von diesem Gesichtspunkte aus erklärt sich die Wirkung der Fleischbrühe; sie ist die Arznei des Genesenden. Niemand schätzt ihren Werth höher, als der Arzt in den Spitälern, für dessen Patienten die Fleischbrühe, als Mittel zur Hebung der erschöpften Kräfte, durch keine anderen Materien des Arzneischatzes ersetzt werden kann; ihre belebende Wirkung auf den Appetit, auf die Verdauungsorgane, die Farbe und das Aussehen der Kranken ist in die Augen fallend.

Es ist einleuchtend, dass die Bestandtheile des Blutes, welche so verschieden von denen des Fleischsaftes sind, eine ganze Reihe von Veränderungen erleiden müssen, ehe sie die zur Erzeugung des belebten Muskels geeignete Form und Beschaffenheit erhalten, ehe sie zu Bestandtheilen des Fleischsaftes werden. In dem Fleische geniessen wir diese Producte fertig zubereitet, nicht in unserem, sondern in einem anderen Organismus, und es ist ausnehmend wahrscheinlich, dass sie oder ein Theil derselben die Fähigkeit behalten, in einem zweiten Organismus ähnliche Wirkungen hervorzubringen, wie in dem, in welchem sie gebildet wurden.

Darin liegt offenbar der hohe Werth, den das ganze Fleisch als Nahrungsmittel besitzt; Heu und Hafer, Kartoffeln, Rüben, Brod etc. bringen im lebenden Leibe Blut und Fleisch hervor, aber keines von allen diesen Nahrungsmitteln erzeugt wieder Fleisch mit gleicher Schnelligkeit wie Fleischnahrung, und es stellt die in der Arbeit verbrauchte Muskelsubstanz mit einem gleich geringen Aufwand von organischer Kraft wieder her.

Einsichtsvolle und erfahrene Aerzte und Chemiker, darunter vorzüglich Parmentier und Proust, haben sich vor Jahren bemüht, dem

  1. In den Muskeln, namentlich in den Halsmuskeln eines Alligators, der an einer nicht näher zu bezeichnenden Krankheit gestorben war, welcher dem hiesigen anatomischen Museum zukam, zeigte das Fleisch ein eigenthümliches fleckiges Ansehen, und die genauere Untersuchung ergab, dass es von zahllosen kleinen Krystallen von Harnsäure herrührte, welche zwischen den Muskelprimitivbündeln und dem Bindegewebe abgelagert war.
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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 286. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_286.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)