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Mit dem Albumin beginnt, mit dem Harnstoff endigt die Reihe der in dem lebendigen Leibe gebildeten Stickstoffverbindungen. Das Albumin ist die höchste, der Harnstoff die niedrigste Verbindung. Der Organismus der Pflanze fügt niedere zu höheren Verbindungen zusammen, in dem Kreislauf des thierischen Lebens fallen die höheren in niedere auseinander. Die Verbindungen von dem Albumin abwärts enthalten den Stickstoff des Albumins, sie sind aus dem Albumin entstanden unter dem Einfluss des Sauerstoffs, durch allmähliches Austreten von Kohlenstoff oder einer Kohlenstoffverbindung, und es ist für diese Stoffe der thierische Lebensprocess ein Process der Rückbildung in niedere und unorganische Verbindungen. Von der Inosinsäure abwärts besitzen die folgenden keine organische Form mehr; das Glycocoll, die Harnsäure, Allantoin und Harnstoff sind krystallisirbar, d. h. ihre Gestalt ist bedingt durch eine unorganische Kraft.

Wir verstehen hiernach, wie aus Fleischfibrin Blutfibrin, aus Blutfibrin die Substanz der Membranen und Bindegewebe entstehen könne, aber aus Leimsubstanz oder Blutfibrin kann kein Albumin gebildet werden; aus der höheren kann die niedere, aber nicht umgekehrt entstehen; eine solche Aufwärtsbildung steht im Widerspruch mit den im thierischen Leibe wirkenden Kräften.

Wir sind im Stande, unter Mitwirkung der nämlichen Bedingungen, welche in dem Organismus wirken, aus Harnsäure Allantoin, aus Kreatin und Harnsäure Harnstoff darzustellen, und wir haben allen Grund zu glauben, dass wir Harnsäure und Harnstoff aus Leimgebilden, die Substanz der Membranen aus Blutfibrin werden darstellen können, eben weil es Bildungen abwärts in der organischen Reihe sind. Die Gesetze des Zerstörens ermitteln wir immer zuerst; ob wir die des Aufbauens jemals kennen lernen, steht dahin.

Es wird häufig behauptet, und ist in den vorhergehenden Briefen gesagt, dass das Albumin und Casein identisch seien; dies ist in strengem Sinne nicht richtig, nur Fleischfibrin und Blutalbumin sind identisch, das Albumin der Eier hingegen nicht, denn es enthält auf dieselben Elemente die Hälfte mehr Schwefel. Es ist sicher, dass dieser Schwefel austreten muss, wenn Eieralbumin in Blutalbumin übergeht. Ein ähnliches, wiewohl umgekehrtes Verhältniss zeigt das Casein; auf die gleiche Menge Schwefel enthält es mehr Kohlenstoff, Wasserstoff und Stickstoff als das Blutalbumin, und es ist vollkommen gewiss, dass aus diesem Bestandtheil der Milch, wenn er zu Blutalbumin in dem Organismus des jungen Thieres wird, nothwendig eine kohlenstoff-, wasserstoff- und stickstoffhaltige

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 295. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_295.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)