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Alle Ursachen, welche diese Bewegung hemmen, oder welche ähnlich wie die Naturkräfte auf den Stoffwechsel, auf den Verbrauch und Ersatz einwirken, stören den Gleichgewichtszustand und bringen eigenthümliche, den Krankheiten der Individuen ähnliche Zustände hervor.

Gegen die Wirkung gehalten, welche die Geschwindigkeit der Bewegung der Geldstücke hervorbringt, ist ihre absolute Menge eine beinahe verschwindende Grösse. Der Staatskörper, im Zustand der vollkommenen Gesundheit, verhält sich wie der menschliche Körper, durch dessen Herz und Capillarien in 24 Stunden einunddreissig bis achtunddreissigtausend Pfund Blut sich bewegen, während die absolute Menge des Blutes tausendmal weniger beträgt.

Die Summe aller Widerstände, welche die Natur der Fortdauer des Lebens und der Erwerbung der Lebensbedingungen (welche nach der eigenthümlichen Function des Geldes gleichbedeutend ist dem Erwerb an Geld) entgegensetzt, ist genau so gross, dass sich die in dem Menschen erzeugbare thätige Kraft damit in’s Gleichgewicht setzen kann. Der Mensch kann naturgesetzlich, ohne sein Fortbestehen zu gefährden, keinen Theil seiner Kraft zur Ueberwindung von Widerständen verbrauchen, durch deren Beseitigung die Mittel nicht erworben werden, die er bedarf, um seine verbrauchte Kraft wieder herzustellen.

Ein vollkommen gleiches Verhältniss besteht für den Organismus des Staates. Ein jeder Verbrauch von Kraft, welche nicht zur Wiederkehr einer Lebensbedingung des Staates dient, oder ein Nichtverbrauch von Kraft, welche zur Erzeugung einer Lebensbedingung vorhanden und verwendbar ist, wirkt auf die Gesundheit des Staatskörpers störend ein.

So wie jede Muskelfaser, jeder Nerv, jeder Theil des Gewebes im thierischen Körper Antheil nimmt an dem in ihm vorgehenden Stoffwechsel und seinen Theil für Aufrechthaltung und Fortdauer der allgemeinen Vorgänge der Verdauung, Blutbildung, Bewegung der Säfte und Absonderung, so wie aller Wirkungen durch die Glieder, die Sinne und das Gehirn beiträgt, so muss jedes Individuum im Staate, nach dem Maass der von ihm durch seine Glieder, Sinne oder seinen Geist verwendbaren thätigen Kraft, seinen Theil zur Erhaltung und Wiederkehr der Lebensäusserungen des Staatskörpers verwenden: die Wirkung dieser Kräfte ist eben die Arbeit.

Jeder Theil des ganzen Organismus hat ein natürliches Recht auf die freieste Verwendung seiner Arbeitskraft und alle darauf, dass keiner den andern in dieser Verwendung hemmt und hindert; das Maximum der Wirkung der Arbeitskraft steht im umgekehrten Verhältniss zu der Summe der zu überwindenden Widerstände; je grösser die Widerstände sind, desto kleiner ist die Wirkung. Die Aufgabe des christlichen Staates ist die Widerstände zu vermindern, nicht zu erhöhen, aber die Lehren des grössten Staatsmannes unserer Zeit, des weisen Mannes mit dem grossen Herzen, dessen Verlust die Nation, der er angehörte, und die Welt noch ein Jahrhundert lang betrauern wird, scheinen bis jetzt weder in dem Verstande, noch in den Gemüthern der Menschen fruchtbaren Boden zu finden. Es ist die Unbekanntschaft mit den bedingenden Ursachen der Gesundheit, des Gedeihens und der Stärke des Staates, welche die Missverhältnisse herbeigeführt hat, die für manche Staaten

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 316. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_316.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)