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Die einsichtsvollsten Vertreter der Landwirthschaft haben bis jetzt in der Erörterung ihrer Fragen in dem Wege geirrt, welcher die Erreichung ihres Ziels verbürgt.

In den grossen landwirthschaftlichen Versammlungen und von Einzelnen werden Fragen aufgestellt, und ihre Lösung als zum Fortschritt dringend nöthig empfohlen. Die Mehrzahl der Landwirthe ist an diesem Fragestellen krank, und spiegelt sich vor, dass durch ihre Beantwortung eine gesunde Einsicht gewonnen werden könne; keiner weiss, worauf es ankommt, aber jeder will sich am Fortschritt betheiligen. Von Personen gestellt, die den Gegenstand nicht verstehen, werden sie von Personen beantwortet, die ihn ebenfalls nicht verstehen. Niemandem ist es aber im Ernst um die Antwort zu thun, denn dies ist jedem klar, dass er schlechterdings damit nichts anzufangen wüsste.

Es giebt ein sehr probates Mittel sich hiervon zu überzeugen; man darf sich nur diese Fragen in Gedanken beantworten mit „Ja“ oder „Nein“ oder mit einer beliebigen Zahl Plus oder Minus, wenn die Antwort eine Zahl sein muss, und man sieht sogleich, dass sie vollkommen unpraktisch oder von demselben Schlag sind wie die Preisaufgabe einer bekannten Akademie, „den Stickstoff zu zerlegen“, was uns jetzt noch etwas schwieriger scheint als Holzkohle aufzulösen und Diamant daraus zu krystallisiren. Die Beantworter dieser Fragen (ich habe immer nur agricultur-chemische im Sinn) sind daher immer Leute, welche nicht einmal ein Mittel gegen den Erdfloh oder ein Recept zu einer guten Wagenschmiere aufzufinden wissen. Vor etwa 22 Jahren schon stellte Hlubeck eine Reihe von Fragen auf, von deren Beantwortung ihm das Heil der Landwirthschaft abhängig zu sein schien; er hat sich aber eben so wenig wie irgend ein anderer weiter darum bekümmert, und der gegenwärtige Zustand der Entwickelung ist ein Beweis, dass keine seiner Fragen in Beziehung damit stand oder Einfluss darauf hatte.

Diese Fragen sind immer Merkzeichen des Fortschritts; sie beweisen, dass die Landwirthschaft aus dem Zustand des rohen Empirismus in das erste Stadium ihrer wissenschaftlichen Entwickelung, nämlich in ihr Kindesalter, wirklich eingetreten ist, wo sich in einer Fülle von Fragen die Wissbegierde offenbart; in diesem Sinn kann man am Ende nur Freude daran haben.

In der Chemie und Physik haben wir alles dies ebenfalls durchmachen müssen. Die Akademien und gelehrten Gesellschaften haben ihrer Zeit eine unglaubliche Menge von abgeschmackten Preisfragen, von unmöglichen Aufgaben ausgeschrieben, ohne irgend einen erheblichen Einfluss auf die Förderung der Wissenschaft damit erzielt zu haben. Wer das Verhältniss dieser Aufgaben zu der Wissenschaft nicht ganz genau kennt, ist leicht verführt zu glauben, dass manche gediegene und wahrhaft epochemachende Arbeiten dadurch hervorgerufen worden seien; dies ist aber eine Täuschung, denn die, welche die Aufgabe stellten, wussten bereits, dass die Antwort unterwegs war, oder die Frage kam zufällig Männern in den Weg, die sich lange zuvor damit beschäftigt hatten.

Die akademischen Aufgaben waren immer mit Preisen, oft mit hohen Preisen verbunden, und da unsere vortrefflichen Landwirthe die Beantwortung

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 345. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_345.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)