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dass das im Regen und Dünger zugeführte kohlensaure Ammoniak oder das Ammoniak in Ammoniaksalzen von der Ackerkrume aufgesaugt und festgebunden wird, so dass freies Ammoniak darin nicht vorhanden sein kann, und da weder reines, noch mit Kohlensäure gesättigtes Wasser das gebundene Ammoniak der Erde entziehen, so ist es selbstverständlich, dass es in der Ernährung der Gewächse von den Wurzeln derselben unmittelbar der Ackerkrume entzogen wird.

Wenn man sich nun denkt, dass die Gewächse allen Stickstoff, den sie für ihre Entwickelung brauchen, nicht aus der Luft, sondern durch den Boden empfingen, so ist es einleuchtend, dass jeder Theil des Bodens die für ihre Lebenszwecke erforderliche Menge Ammoniak oder Stickstoff enthalten müsste; enthielten diese Theile weniger davon, als die Wurzeln aufzunehmen vermögen und die Pflanze sich aneignen kann, so würde sie nicht das Maximum ihrer Entwickelung erreichen; sie würde, auch wenn die anderen Bedingungen zur Körnerbildung vorhanden sind, weniger oder dem Gewicht nach leichtere Körner bilden.

Die Ertragsfähigkeit eines Feldes, in so weit sie von dem Stickstoff bedingt ist, würde im Verhältniss stehen zu der Summe des im Boden vorhandenen Stickstoffs und zu dem Theile dieser Summe, der in jedem Theile des Querschnitts des Bodens abwärts vorhanden ist. An dem Orte, wo die Wurzelfasern keinen Stickstoff vorfinden, würden sie auch keinen aufnehmen können.

Von zwei Feldern, deren Ackerkrume von der Oberfläche abwärts die gleiche Menge Stickstoff enthält, werden, die andern Bedingungen des Wachsthums als gegeben betrachtet, zwei Pflanzen eine ungleiche Menge Stickstoff empfangen, wenn ihre aufsaugende Wurzeloberfläche ungleich ist. Die eine Pflanze mit doppelter Wurzeloberfläche wird doppelt so viel Stickstoff aufnehmen, als eine andere mit einfacher Wurzeloberfläche. Dieses Verhältniss findet statt für alle im Boden vorhandenen Nahrungsstoffe.

Auf einem Felde, welches nur halb so viel Nahrungsstoffe enthält als ein zweites, wird eine Pflanze mit doppelter Wurzeloberfläche eben so viel Nahrung empfangen, als auf diesem zweiten eine Pflanze mit einfacher Wurzeloberfläche aufnimmt.

Diese Sätze sind selbstverständlich und es erklärt sich hieraus in vielen Fällen eine der Hauptwirkungen des Düngers auf unseren Feldern, in so fern eine Anhäufung der Nahrung in der oberen Kruste des Feldes die Pflanzen befähigt, während der ersten Zeit ihrer Entwickelung die zehnfache, vielleicht hundertfache Anzahl von aufsaugenden Wurzelfasern zu treiben, die sie sonst getrieben haben würden, und ihr späteres Wachsthum wird im Verhältniss stehen zu der gewonnenen grösseren Wurzeloberfläche, durch die sie jetzt die sparsam in den tieferen Schichten des Feldes vorhandenen Nahrungsstoffe aufzusuchen und sich anzueignen vermögen.

Ueber die Anzahl der Wurzelfasern der Culturgewächse und ihre aufsaugende Oberfläche entbehren wir bis jetzt aller Untersuchungen, und es ist deshalb nicht möglich mit einiger Bestimmtheit festzusetzen, wie viel Ammoniak in jedem Theile des Querschnitts des Bodens enthalten

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 370. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_370.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)