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Krankheitserscheinungen, die man bei Kindern auf dem Lande oder in Gefängnissen wahrnimmt, wenn die Nahrung vorzüglich in Brod besteht, und in dieser besonderen Beziehung möchte diese Anwendung des Kalkwassers von Seiten der Aerzte einige Aufmerksamkeit verdienen.

Die Ausgiebigkeit des Mehls an Brod wird wahrscheinlich in Folge einer stärkeren Wasserbindung vermehrt. Auf 19 Pfund Mehl ohne Kalkwasser wurden in meiner Haushaltung selten über 24½ Pfund Brod erhalten; mit 5 Pfund Kalkwasser verbacken liefert dieselbe Menge Mehl 26 Pfund 12 Loth bis 26 Pfund 20 Loth gut ausgebackenes Brod. Da nun nach Heeren’s Bestimmungen die gleiche Menge Mehl nur 25 Pfund 3,2 Loth Brod liefert, so scheint mir die Gewichtsvermehrung durch Anwendung des Kalkwassers unzweifelhaft zu sein.

Das Verbacken des Mehls aus ausgewachsenem Getreide. Ein wichtiges Problem ist in diesen Tagen durch Herrn Dr. Julius Lehmann, Chemiker an der landwirthschaftlichen Versuchsstation zu Weidlitz bei Bautzen, gelöst worden: das Verbacken von Mehl aus ausgewachsenem Roggen zu Brod.

Es war Herr Dr. Lehmann von dem königl. sächsischen Ministerium des Innern mit weiteren chemischen Untersuchungen in Beziehung auf die wichtigsten Lebensmittel beauftragt und ihm hierbei die obige Frage als besondere Aufgabe gestellt worden. Die eingeleiteten Untersuchungen ergaben, dass die durch das Keimen der Getreidekörner entstehenden Veränderungen in der Hauptsache in einem theilweisen Löslichwerden des Klebers und dem dadurch herbeigeführten Verschwinden der Elasticität und Dehnbarkeit (der teigbildenden Eigenschaft) desselben, sodann aber in einer Umwandlung des theilweise löslich gewordenen Stärkmehls vermittelst der mit dem Kleber in geringer Quantität gebildeten Diastase in Dextrin und Zucker sich kundgebe. Weitere Untersuchungen führten dahin, dass das Kochsalz die Eigenschaft besitze, den in Lösung befindlichen Kleber wieder unlöslich zu machen und ihm seine teigbildende Eigenschaft wieder zu ertheilen.

Gestützt hierauf wurden, nachdem der anhaltende Regen zur Zeit der Roggenernte zum Auswachsen grosser Mengen von Korn geführt hatte, zuerst Versuche in der Bäckerei des Herrn Ochernal auf Techritz angestellt, und als solche zu günstigen Resultaten geführt hatten, mit Genehmigung des königl. Kriegsministeriums in der Militairbäckerei zu Dresden unter Aufsicht des Herrn Kriegscommissars Blume durch Herrn Dr. Lehmann fortgesetzt.

Es wurde zu denselben Roggen gewählt, dessen Körner fast ohne Ausnahme gekeimt waren; es wurde solcher absichtlich mit allen Keimen vermahlen; es ergab 1 Scheffel, welcher 160 Pfund wog,

gutes Mehl 102 Pfund
Nachgang 17
Schwarzmehl 15½
Kleie 16½
Hiernach Verlust 9

Von dem guten Mehle wurden 40 Pfund mit 31 Pfund Wasser und dem nöthigen Quantum Sauerteig, ganz in gewöhnlicher Weise behandelt und von dieser Masse die Versuchsbrode abgewogen. Es ergab

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Justus von Liebig: Chemische Briefe. Leipzig und Heidelberg 1878, Seite 475. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Chemische_Briefe_Justus_von_Liebig_475.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)