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als das behandelt worden wäre, was sie – nach der treffenden Bemerkung auf dem ersten Blatt von Mommsen’s Römischer Geschichte – sein soll und muss, als die „Culturgeschichte der Anwohner des Mittelmeeres“?[WS 1]

Am wenigsten reicht jene Formel aus gegenüber der Geschichte des antiken Republikanismus. Denn nirgends tritt ja die Macht der Gesellschaft im Staat und über den Staat klarer und entschiedener zu Tage, als in der Republik, auch in der demokratischen, in der zwar ideell die sogenannte Volkssouveränität, in Wirklichkeit aber die Souveränität der Gesellschaft, beziehungsweise der jeweilig herrschenden Gesellschaftsclassen die eigentliche Grundlage der Staatsordnung und des politischen Lebens bildet.

Von diesem Gesichtspunkt aus wird man an jede Geschichtsschreibung, welche die Entwicklung der antiken Republiken zu ihrem Gegenstand macht, die Forderung stellen müssen, dass sie zugleich eine Geschichte der Gesellschaft und der socialen Bewegung enthalte. In diesem Sinne hat Mommsen die innere Geschichte des Römischen Staates zugleich als die Geschichte des Römischen Bauernstandes geschrieben. Und neben ihm hat Nitzsch in seiner feinsinnigen Weise an dem tragischen Ringen der capitalistischen und bäuerlichen Elemente des Römischen Volkes gezeigt, wie hier die furchtbare Naturgewalt der materiellen Interessen in ihrer ganzen verhängnissvollen Bedeutung für die sittliche Persönlichkeit des Einzelnen, für Gesellschaft und Staat zu Tage tritt. – Eine Betrachtungsweise, die den ewig unvergänglichen Bildungswerth der Geschichte von Hellas und Rom gewiss noch ungleich mehr zur Geltung zu bringen vermag, als selbst das wohlredendste Pathos plutarchischer Schilderungen der „Bürgertugend, die in ihren glänzendsten Epochen unübertrefflich strahlt“[1].

Wenn wir daher den richtigen Massstab für die Beurtheilung des Geschichtschreibers der Athenischen Demokratie gewinnen

  1. Vgl. Schäfer a. a. O. S. 25, wo es gewissermassen beklagt wird, dass „die Neigung unserer Zeit zu materieller und mechanischer Geschichtserklärung besonders auf dem Gebiete des Alterthums manches von dem früheren Nimbus zerstört hat“. Wenn der Nimbus zum Theil ein falscher war, so war die Zerstörung der falschen Vorstellungen doch gewiss nicht das Werk einer einseitigen Geschichtsbetrachtung!

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: ?“
Empfohlene Zitierweise:
Ludwig Quidde (Herausgeber): Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, Freiburg i. Br. 1890, Seite 4. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1890_03_004.jpg&oldid=- (Version vom 19.10.2022)