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wollen, so werden wir ein Hauptgewicht auf die Frage legen müssen, ob und inwieweit er in der Geschichte des Staates die der Gesellschaft gesucht hat[1].

Es könnte auf den ersten Blick scheinen, dass sich Grote dieser Aufgabe in der That voll und ganz bewusst war, wenn wir in seiner berühmten Kritik Mitford’s lesen, dass eine Griechische Geschichte ein vollständiges Bild der Erscheinungen und des „Mechanismus“ der Gesellschaft geben müsse[2]. Allein es erregt doch sofort Bedenken, wenn nun Grote in der „History of Greece“ selbst erklärt, die Wirksamkeit eines „socialen Systems“ schildern zu wollen, welches durch den Schutz und die Freiheit, die es dem Individuum gewährte, den schöpferischen[WS 1] Trieben des Genius den mächtigsten Anreiz gab und höher stehenden Geistern hinreichenden Spielraum liess, sich in Religion und Politik von der Tradition zu emancipiren, die Schranken der Zeit zu durchbrechen[3]. Denn dieses „social system“ ist nicht der Organismus, den wir als die „Gesellschaft“ in ihrer Selbständigkeit gegenüber dem Staat und im Unterschied vom Staat bezeichnen, sondern umfasst die sociale und politische Ordnung in gleicher Weise. Wenn daher Grote von dem „mechanism of society“ spricht, so hat er auch dabei Gesellschafts- und Staatsordnung als ein ununterschiedenes Ganzes im Auge, wie er denn auch geradezu den Ausdruck „political society“ gebraucht. Man vermisst demnach in seiner Auffassung von vornherein das, was die erste Voraussetzung für die Lösung der angedeuteten Aufgabe bildet, die scharfe Trennung de Begriffes der Gesellschaft von dem des Staates; eine Unterscheidung, ohne welche eine wirkliche Einsicht in das Wesen und die Macht der Gesellschaft nicht möglich ist.

Diese mangelhafte Grundanschauung ist es, in welcher die Illusionen der Grote’schen Geschichtschreibung über den culturpolitischen Werth der Demokratie wurzeln. Er weiss die Segnungen der demokratischen Republik als der „reinsten“ Verkörperung

  1. Nur um diese bisher kaum beachhtete Seite der Grote’schen Geschichtsschreibung handelt es sich hier für uns, nicht um eine Gesammtwürdigung derselben.
  2. Vgl. Westminster Review 1826 S. 304: „exhibit a full view of the phenomena of society“ und S. 331: „unfold the mechanism of society.“
  3. Band I der Ausgabe von 1883. Preface p. V.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: schöpferisehen
Empfohlene Zitierweise:
Ludwig Quidde (Herausgeber): Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, Freiburg i. Br. 1890, Seite 5. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1890_03_005.jpg&oldid=- (Version vom 18.10.2022)