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sich sonst die Thatsache erklären, dass gerade auf dem Höhepunkte der Athenischen Demokratie kein Problem die edelsten Geister mehr beschäftigt hat, als das Recht des Individuums gegen die Gesammtheit und ihr Gesetz?

Die Grote’sche Auffassung der Geschichte lässt uns solchen Erscheinungen gegenüber vollkommen im Stich. Es ist für unsere heutige Anschauungsweise kaum mehr begreiflich, wie blind und theilnahmslos diese Geschichtschreibung an den bedeutsamsten Thatsachen des Volkslebens vorübergeht, wenn sie ausserhalb des Gesichtskreises der Doctrin liegen. So ist doch gewiss, um ein bezeichnendes Beispiel zu wählen, an der Korinthischen Bundesverfassung von 338 beziehungsweise 336, durch welche Hellas sich unter die Makedonische Monarchie gebeugt hat, vor allem der Umstand von Interesse, dass das socialpolitische Moment in derselben in ganz besonderer Weise betont wird. Die neue durch den Sieg der Monarchie verbürgte Ordnung der Dinge schafft neue Garantien für die Sicherheit des Eigenthums gegen socialrevolutionäre Tendenzen, gegen die im Classenkampf immer häufiger werdenden Gewaltacte der Güterconfiscation und Ackervertheilung, des Schuldenerlasses und der revolutionären Sklavenbefreiung. – In der Inhaltsangabe des Bundesvertrages können diese Dinge natürlich auch von Grote nicht übergangen werden; bei der historischen Würdigung des Vertrages jedoch sind sie für ihn nicht mehr vorhanden, ebensowenig wie das ganze social-ökonomische System, dessen Symptome sie sind[1].

Bricht doch seine Darstellung der Griechischen Geschichte schon mit diesem Zeitalter ab, obgleich die letzten Consequenzen der ganzen bisherigen socialen und politischen Entwicklung gerade seit dieser Epoche immer deutlicher zu Tage treten, und obgleich eine Griechische Geschichte, für welche das 3. und 2. Jahrhundert nicht mehr vorhanden ist, zu einem allseitigen Urtheil über das Werthresultat jener Entwicklung unmöglich gelangen kann.

Kein Wunder, dass man bei Grote für die schon im 4. Jahrhundert überall lautwerdenden Klagen über die Massenarmuth

  1. Bezeichnend für diese einseitige Auffassungsweise ist die Behauptung: Among the various causes of sedition or mischief in the Grecian communities, we hear little of the pressure of private debt. H. of Gr. Bd. III p. 117.
Empfohlene Zitierweise:
Ludwig Quidde (Herausgeber): Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, Freiburg i. Br. 1890, Seite 11. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1890_03_011.jpg&oldid=- (Version vom 19.10.2022)