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gleichzeitigen Abhandlung über die Parlamentsreform wird weiter ausgeführt, dass das Volk selbst vom Staate in der Hauptsache weiter nichts verlange, als Sicherheit von Person und Eigenthum und möglichste Verallgemeinerung der Bildung unter den ärmeren Classen. Den letzteren im Kampfe gegen die Noth zu Hilfe zu kommen, sei nicht Sache des Staates; denn durch eine richtig geleitete Erziehung könnten die arbeitenden Classen gewöhnt werden, ihre Vermehrung so zu regeln, dass die Löhne von selbst auf einer genügenden Höhe erhalten würden[1]!

Noch ein Vierteljahrhundert später steht Grote genau auf demselben doctrinären Standpunkt, trotz der scharfen Kritik, welche inzwischen die herrschende Lehre durch Thomas Carlyle, Thompson u. A. gefunden hatte. Bezeichnend für dieses Stehenbleiben Grote’s ist die zustimmende Anerkennung, welche er in einem Briefe an John Stuart Mill (Oct. 1857) der Schrift Wilhelm v. Humboldt’s über die Grenzen der Wirksamkeit des Staates ausspricht. Er rühmt die Tendenz eines Werkes, welches die staatsscheue Gesinnung des Individualismus mit einer radicalen Einseitigkeit zum Ausdruck bringt, wie wir sie heutzutage kaum mehr begreifen können, und wie sie ja W. v. Humboldt selbst später zum guten Theil wieder abgestreift hat[2]! Das, was wir als eines der bedeutsamsten Verdienste der Hellenischen Staatswissenschaft preisen, dass sie es verstand, „das höchste Princip der Verwaltung, das „εὖ ζῆν“, neben das höchste der Verfassung zu stellen“[3], ist demnach für den Geschichtschreiber Griechenlands von vornherein nicht vorhanden. Wäre er überhaupt diesem Gedanken bei den Alten näher nachgegangen, so hätte er von seinem Standpunkt aus nur über Verirrungen berichten können. Kein Wunder, dass uns die Erörterungen Grote’s über die Griechische Staatslehre, z. B. ihre Stellung zum monarchischen Princip, so völlig unbefriedigt lassen. Aus seiner Darstellung erhält man keine Ahnung davon, in welch’ bedeutungsvoller Weise die Idee einer starken Regierungsgewalt, insbesondere der

  1. Minor works p. 11.
  2. Life of Gr. p. 287. W. Humboldt’s book is written in a very excellent spirit, and deserves every mark of esteem for the frankness with wich it puts forward free individual development as an end etc.
  3. L. v. Stein, Die Entwicklung der Staatswissenschaft bei den Griechen. Sitzungsber. der Wiener Akad. 1879 S. 248.
Empfohlene Zitierweise:
Ludwig Quidde (Herausgeber): Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, Freiburg i. Br. 1890, Seite 19. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1890_03_019.jpg&oldid=- (Version vom 19.10.2022)