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welcher vor Jahren „die Geschichtswissenschaft in Hauptrichtungen und Aufgaben“ geschildert hatte, konnte jetzt erst daran denken, seiner Würdigung Schlosser’s und Dahlmann’s eine umfassende Charakteristik Ranke’s folgen zu, lassen[1], und er fand in der Ideenlehre desselben den „dünnen Faden, der Ranke mit der Philosophie verknüpfte“, aber in einer Ideenlehre, welche mit derjenigen Wilhelm v. Humboldt’s nicht mehr wie den Namen gemein habe.

Auch Aufsätze haben zuweilen ihre Geschichte. Lorenz hat ganz Recht, dass sich die Abhandlung „über die Aufgabe des Geschichtschreibers“ noch immer bei den Historikern eines gleichsam kanonischen Ansehens erfreue. Aber auf der anderen Seite haben sich schon frühzeitig gewichtige Stimmen gegen Humboldt’s Theorie vernehmen lassen. Der Erste, der mancherlei auszusetzen hatte, war Wilhelm’s eigener Bruder[2]. Der Verfasser des „Kosmos“ musste zwar anerkennen, dass die Voraussetzung einer göttlichen Weltregierung „den urältesten in allen Sprachen ausgesprochenen Gefühlen der Menschheit analog“ sei, aber mehr wie den Commentar dieses dumpfen Gefühls wollte er in jener Voraussetzung nicht sehen und erinnerte an den Physiologen, der sich willkürlich sogenannte Lebenskräfte schaffe, bloss weil seine Kenntniss der physischen Naturkräfte zur Erklärung organischer Erscheinungen nicht ausreiche.

Vom Standpunkte der neuen Wissenschaft der Völkerpsychologie kam dann Lazarus[3] zu der Erkenntniss, dass W. v. Humboldt’s Versuch, Speculation und Erfahrung zu versöhnen, scheitern musste, weil derselbe der Wissenschaft nicht mächtig war, welche die concreten Erscheinungen „der Erfahrung in ihre Elemente und Processe zerlegt“, um von dieser Grundlage aus zu Gesetzen vorzudringen. Lorenz endlich (S. 63) erklärt sich den Umstand, dass „selbst die gewandtesten Gedankenbrecher“, welche neuerdings über dieses Thema geschrieben hätten, keine Einigkeit erzielten,

  1. Ottokar Lorenz, Die Geschichtswissenschaft in Hauptrichtungen und Aufgaben kritisch erörtert. Theil 2: L. v. Ranke. Die Generationenlehre und der Geschichtsunterricht. (Vgl. Bibliographie Nr. 2005.)
  2. An Varnhagen van Ense. Berlin 10. Mai 1837. S. 39 der 2. Aufl. des Briefwechsels.
  3. Ueber die Ideen in der Geschichte. Zeitschrift für Völkerpsychologie. 3 (1865), 385–486.
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Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1891, Seite 236. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1891_06_236.jpg&oldid=- (Version vom 21.1.2023)