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Entwicklung der Germanisch-Romanischen Nationen seit der Völkerwanderung gefunden haben, einer Entwicklung, welche nichts von dem künstlichen Gegensatz der „Reden“ weiss, sondern lehrt, dass sowohl die Französische, Spanische und Italienische als auch die Deutsche, Englische und Skandinavische Nationalität sich in gegenseitigem Geben und Empfangen ausgebildet haben. Zu solchen Erwägungen mochte nun Ranke gerade durch Fichte’s Uebertreibungen angeregt werden, und so entstand die Idee von der Einheit der Romanischen und Germanischen Völker[1], die er als die Voraussetzung seines ersten Buches ausdrücklich bezeichnet und in der Folge immer aufs neue formulirt hat als die Idee einer „mehr idealen als repräsentirten Einheit“[2].

Zweierlei verdankt also Ranke seiner einstigen Beschäftigung mit Fichte, die deutliche Einsicht in den Denkfehler der idealistischen Geschichtsphilosophie und die hohe sittliche Auffassung seines Berufes, welche ihn zum grundsätzlichen Gegner aller apriorischen Constructionen macht. Wie für Fichte das philosophische, so ist für ihn das historische Studium Gottesdienst, und in einer bezeichnend genug an Luther erinnernden Seelenstimmung erklärt er einmal in den ersten Jahren seiner Professur, „wer die Wahrheit des Weltzusammenhanges, Gottes und der Welt mit eigener Wahrhaftigkeit suche, werde immer verzweifeln“, aber gerade „in der Verzweiflung liege der Beruf“[3].

Man findet auch sonst in der Geschichte jener Jahre häufig, dass diejenigen, welche schon an Fichte’s oder Schelling’s Fortbildung der Kant’schen Philosophie Anstoss genommen hatten, sich gegen Hegel von vornherein ablehnend verhielten. Auch bei Ranke war dies der Grund des entschiedenen Misstrauens, das er dem Berliner Collegen entgegenbrachte. Er meinte wohl die Furcht vor „dem schädlichen Einfluss der sophistischen, in sich selbst nichtigen und nur durch den Bannspruch seltsamer Formeln wirksamen Philosophie“ Hegel’s werde in ganz Deutschland

  1. „Einer der vornehmsten Gedanken, die ich mir gebildet habe, und von dem ich der Ueberzeugung bin, dass er vollkommen richtig ist, ist der, dass der Complex der christlichen Völker Europas als ein Ganzes, gleichsam als Ein Staat zu betrachten ist.“ Epochen S. 99.
  2. Englische Gesch. 3. Aufl. 2 (Werke 15), 271.
  3. An Heinrich Ritter. Wien 9. Dec. 1827. Lebensgesch. S. 180.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1891, Seite 241. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1891_06_241.jpg&oldid=- (Version vom 22.1.2023)