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Kraft bewundern lehrten. Nie wäre es ihm daher eingefallen, sich wie Herder dadurch aus der Verlegenheit zu ziehen, dass er die Gattung für einen leeren Begriff erklärte. Allein ebenso wenig vermochte über ihn eine Philosophie, welche das Individuum den Zwecken der Gattung mit gebundenen Händen überlieferte. Wohl entging auch ihm nicht die auseinandergehende Richtung in den Schicksalen des Einzelnen und der Gattung, aber er erkannte, dass weder die Entwicklung des Menschengeschlechts noch die individuelle Bildung darunter Noth leide, weil sich die Selbstbildung des Einzelnen nothwendig im Gegensatz zu derjenigen Weltgestaltung vollziehe, mit der jeder in seinem Kreise in die Wirklichkeit eingreife.

„Der Einzelne, der für sich nichts ist, und das Geschlecht, das nur in Einzelnen gilt“ [1], sind nun aber die Factoren der geschichtlichen Bewegung, und es leuchtet ein, dass der Philosoph Ziel und Zweck derselben mit Sicherheit nur dann bestimmen kann, wenn er das Zusammenwirken und Ineinandergreifen beider Factoren niemals aus den Augen lässt, nachdem er zuvor bewiesen hat, dass er auch jeden für sich allein zu bestimmen wisse. Gerade dies letztere aber erklärt Humboldt für ganz unmöglich, und zwar deshalb, weil Kant’s Freiheitslehre gezeigt habe, dass wir nur den empirischen Charakter des Menschen, und auch diesen nur unvollkommen, in seine Elemente zerlegen können. Von jedem grossen Individuum lasse sich daher wohl sagen, wie die durch die Arbeit der vorausgegangenen Jahrhunderte aufgebaute Bühne aussah, auf der es seine Thätigkeit entfaltete. Aber das eigenthümliche Gepräge dieser Thätigkeit werde man vergebens aus einem Andern abzuleiten suchen.

Durch die Unberechenbarkeit der individuellen Momente muss also jedes System der Zwecke zu Schanden werden. Aber auch die mechanische Causalität erklärt den Zusammenhang der Ereignisse nicht völlig, weil sie für das Wirken der Freiheit keinen Raum lässt. Das Wesen der Dinge erfassen wir daher nur durch die Erforschung der schaffenden Kräfte, welche uns

  1. Aus Humboldt’s Denkschrift über die künftige Verfassung Deutschlands, Frankfurt Dec. 1813, bei A. Schmidt, Gesch. der Deutschen Verfassungsfrage während der Befreiungskriege und des Wiener Congresses. Stuttgart. 1890. S. 105.
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Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1891, Seite 249. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1891_06_249.jpg&oldid=- (Version vom 22.1.2023)