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einem Zeichen ihrer noch vollsaftigen Kraft – herrscht überall in gleicher Sicherheit das alte Stammesgefühl; und bei den Sachsen, dem führenden Stamm des Reiches, erhebt es sich noch zu so sonnigen Höhen stolzer Empfindung, wie nur jemals bei den Franken in der Entstehungszeit des Salischen Rechtes. Auch jetzt noch rühmen sich die Sachsen als das auserwählte, das altedle Volk voll Heldenkraft; als Schrecken aller Nachbarvolker überwinden sie ihre Feinde noch altgermanisch mit treuloser List und grausamer Härte. Doch höchsten Ursprungs und vom tapfersten Stamm haben sie gleichwohl an Ruhm noch gewonnen, seitdem sie durch König Karls Hülfe den Weg des Heiles wandeln; mit der Uebertragung des h. Veit aus Fränkischem Boden in ihr Land ist über sie die Kraft der Franken und des Christenthums zugleich gekommen. Derjenige, der uns diese eigenartige Geschichtsphilosophie aus Sächsischem Gesichtspunkte vermittelt hat, ist Widukind[WS 1], der letzte unserer grossen Stammeshistoriker, ein nicht unwürdiger Nachfolger eines Gregor von Tours und eines Paulus Diaconus – ein Sohn seines Stammes, dem es selbst in den fruchtbaren Tagen der Gründung des Reiches nicht einfiel, etwas Anderes für überliefernswerth zu halten, als die Geschichte des Sächsischen Stamms und der Sächsischen Fürsten.


II.

Wenn es wahr ist, dass die Fortschritte der geistigen Cultur abhängig sind von der jeweiligen Ausgestaltung von Staat und Gesellschaft und deren Rückwirkung auf die Entfaltung der Gesammtpersönlichkeit eines Volkes, so versteht es sich, dass mit dem Uebergang vom Völkerschaftsstaate der Urzeit zum Stammesstaat des 5. bis 10. Jahrhunderts die grössten Wandlungen der Germanischen Volksseele und ihrer Cultur erfolgt sein müssen. In der That braucht man sich nur die ungeheure Verschiedenheit des Taciteischen Staates vom Stammesstaat des 10. Jhs., des agrarischen Communismus und der gebundenen Geschlechterverfassung der Urzeit von der genossenschaftlichen Ausgestaltung des Agrarwesens und der Familie der Ottonenzeit zu vergegenwärtigen, um das zu verstehen. Freilich hat zu dem Fortschritt, der durch diese Grenzerscheinungen bezeichnet wird, nicht bloss die einheimisch-immanente Entwicklung, sondern nicht minder die Reception christlicher und antiker Elemente namentlich seit der Karlingischen

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Widukind * um 925 oder 933/35; † 3. Februar nach 973 in Corvey; war ein bedeutender sächsischer Geschichtsschreiber. Er ist der Verfasser der Res gestae Saxonicae, einer „Sachsengeschichte“, die eine der wichtigsten und meistdiskutierten Quellen zur Ottonenzeit ist.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1892, Seite 5. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1892_07_005.jpg&oldid=- (Version vom 26.1.2023)