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mehr davon; die nachbarlichen Beziehungen allein bestimmen nunmehr das gegenseitige Verhältniss der Dorfgenossen: der alte geschlechtliche Zusammenhang ist nicht bloss seiner wirthschaftlichen Stützung verlustig gegangen, die wirthschaftliche Entwicklung hat ihn geradezu durchbrochen.

Noch stärker trug das Wirthschaftsleben mittelbar, durch seine socialen Folgen, zur Zerstörung der alten Geschlechtszusammenhänge bei. Indem seit dem 6. Jh. immer gewaltiger der Unterschied zwischen agrarischem Reichthum und agrarischer Armuth auftrat mit dem schliesslichen Ergebniss, dass in Karlingischer Zeit Massen freier Leute in die Abhängigkeit der Grundherren, schliesslich in halbe Unfreiheit geriethen, wurde naturgemäss der verwandtschaftliche Zusammenhang dieser minder Glücklichen gegenüber vollfrei bleibenden Mitgliedern ihres Geschlechts gelockert: die alten engen Beziehungen verwandtschaftlichen Zusammenlebens schwächten sich ab, bis das geschlechtliche Band schliesslich völlig gesprengt ward.

Das alles waren Vorgänge, die der Staat, der alte Feind der urgermanischen Geschlechterverfassung, zu ferneren Eingriffen benützte und ausweitete. Jetzt erst beginnt er völlig über das Geschlecht zu triumphiren als Schützer der öffentlichen Interessen; jetzt erst naht er sich dem Individuum unvermittelt mit seinen Ansprüchen und Segnungen. Er beschränkt die Erbfähigkeit der Gesippten auf den fünften bis siebenten Grad: sind Erben dieser Grade nicht vorhanden, so fällt der Nachlass als erbenlos an den Fiscus: jeder über den fünften bis siebenten Grad hinaus reichende Geschlechtszusammenhang wird unterbunden. Noch mehr: die Antheilsfähigkeit der Gesippten an Fehde und Wergeld wird auf den dritten und vierten Grad zurückgeschraubt[1]; eine neue Verstümmelung der Geschlechtszusammenhänge ist die Folge. Ja darüber hinaus geht noch die Karlingische Gesetzgebung: sie sucht neben der Ausdehnung namentlich auch die Functionen des Geschlechtsverbandes zu beseitigen. Die Gesammtvormundschaft des Geschlechts über seine Unmündigen ist ihr zuwider, die Eideshilfe der Geschlechtsgenossen weiss sie mit theilweisem

  1. Für Friesen und Sachsen wenigstens ist die Theilnahme des Geschlechtes am Empfang des Wergeldes noch für Karlingische Zeit sicher. Hierher wird wohl auch das premium von 120 s. in L. Sax. 14 zu ziehen sein; s. Schröder, Dt. Rechtsgesch. S. 334 Anm. 20 gegen Brunner in Z. f. RechtsG. XVI, 5. ff.
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Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1892, Seite 8. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1892_07_008.jpg&oldid=- (Version vom 25.1.2023)