Seite:De DZfG 1892 07 025.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

die unter den ungünstigen Einwirkungen der antiken Reception allein noch die heimischen Schätze der Poesie besassen und an ihrem Theile mehrten. Dabei waren sie nicht mehr hochgemuthe Sänger, wie ihre Vorgänger dereinst an den Höfen der Stammesfürsten und Könige des 6. bis 8. Jhs.: Possenreisser und Musikanten, Mimiker vielfach gewöhnlicher Art, lose schweifendes Volk waren sie; und die neue Poesie ihrer Schöpfung ist mit ihnen vergangen im Wind und Wetter der Landstrasse.

So sind wir über die ausserordentlichen Wandlungen, die sich in der äusseren Formgebung der Dichtung vom 8. bis zum 10. Jh. vollzogen, nur wenig unterrichtet. Während sich auf der einen Seite noch lange die Praxis der Verschränkung von Vorstellungen, ja ganzen Episoden hält[1] – ähnlich wie in der Pflanzenornamentik die Vergitterung pflanzlicher Schäfte noch spät an die Bandornamentik der Urzeit erinnert –, während ferner die Allitteration noch vielfach gebraucht wird, machen sich doch langsam auch neue Arten der Formgebung geltend. Die Erzählung wie die Darlegung der Empfindungen wird ohne Verflechtungen breit und klar gehandhabt, an die Stelle der Allitteration tritt der Reim.

Nur schwer lassen sich die Gründe dieser Umwälzung aufklären. Gefördert wurde der Reim offenbar durch das Beispiel der Lateinischen Dichtung, vornehmlich der Sequenz und des Hymnus; Platz geschaffen ward ihm zugleich durch den Verfall der altgermanischen chorischen Dichtung. Doch sind das nur nebensächliche Momente; in der nationalen Entwicklung selbst muss die Aufforderung zu einer auf den Reim führenden Wandlung der dichterischen Formgebung gelegen haben: sonst würde der Reim schwerlich so rasch und allseitig, zugleich in der Anekdote und dem ernsten Epos, in Kunstschöpfungen wie in echt nationaler Poesie, im Muspilli wie in Otfrids Krist zum Siege gelangt sein.

Vielleicht ist der mehr lyrische, musikalische Charakter des Reims für seine schnelle Aufnahme von Bedeutung gewesen. Wenigstens lässt es sich nicht verkennen, dass mit der neuen

  1. Noch Widukinds Werk ist darnach geordnet; Widukind nennt das strictim et per partes scribere. Nicht verstanden von Koepke, Widukind S. 11 ff. Die Verschränkung der Episoden kennt auch Paulus Diaconus in der Hist. Langob.; wie weit sie verbreitet ist, beweist auch die gewöhnliche „Der Seefahrer“ betitelte Ags. Dichtung bei Wülker, Bibl. 1, 290 ff. vgl. Ebert, Litgesch. 3, 82.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1892, Seite 25. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1892_07_025.jpg&oldid=- (Version vom 26.1.2023)