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Auffassung nicht Sache des Strafrichters, sondern der wissenschaftlichen Erörterung sei. Die Staatsanwaltschaft hat Revision beim Reichsgericht eingelegt.

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Der Versuch, einer historischen Erörterung mit dem Strafgesetzbuch zu begegnen, ist also einstweilen missglückt; aber der Angriff ist von den Gerichten und der öffentlichen Meinung doch nicht so entschieden zurückgewiesen worden, dass eine Wiederholung, vielleicht mit besserem Erfolge, ausgeschlossen wäre und dass uns nicht die Verpflichtung obläge, an einem Orte, wo die Interessen historischer Forschung vertreten werden sollen, die Frage zur Sprache zu bringen. Auch auf die Gefahr hin, dass wir damit der Mehrzahl unserer Leser etwas sehr Ueberflüssiges zu thun scheinen! Man darf freilich die Bedeutung des Anlasses nicht übertreiben. Im Augenblick (das soll gern zugegeben werden) ist die Wahrscheinlichkeit einer ernsten Beeinträchtigung wissenschaftlicher Forschung sehr gering, und von uns Stubengelehrten, die wir mit unseren Editionen und anderen unverfänglichen Aufgaben beschäftigt sind, werden sich vollends gar viele für die Frage nicht erwärmen können, da es sich ja doch um einen „Zeitungsartikel“ und zwar um einen offenbar „agitatorisch“ gehaltenen Aufsatz, nicht um eine rein wissenschaftliche Leistung handelt. Die Bedeutung des Unterschiedes soll nicht bestritten werden, aber der Einwand trifft die Sache nicht; denn principiell bleibt die Frage dieselbe, solange der Zeitungsartikel sich darauf beschränkt, die Auffassung des Autors von historischen Dingen zu entwickeln. Die Frage an sich ist auch rein theoretisch von grossem Interesse

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Wenn man die indirecte, historische Kritik staatlicher Einrichtungen mit dem Strafgesetz bedroht, so legt man der Geschichtswissenschaft gerade dort, wo sie sich mit lebendigen Interessen am nächsten berührt und der grössten Freiheit bedarf, die engsten Fesseln an, und wenn Bestimmungen, deren Zweck es ist, die bestehenden öffentlichen Institutionen vor Verunglimpfung im politischen Kampf zu schützen, erst einmal auf historische Betrachtungen angewendet werden, so kann das leicht zu den ungeheuerlichsten Consequenzen führen. Dieselben Kriterien wie auf jenen Artikel wären unter Umständen auch auf ein wissenschaftliches Buch anwendbar. Hat Treitschke’s Deutsche Geschichte nicht agitatorisch gewirkt? hat er nicht Vorfahren heute regierender Bundesfürsten beleidigt, nicht Staatseinrichtungen Deutscher Klein- und Mittelstaaten verächtlich gemacht? Und könnte man nicht manche protestantische historische Schrift wegen Beschimpfung der katholischen Kirche, manche katholische wegen Beschimpfung der protestantischen verklagen – von den historischen Publicationen atheistischer und kirchenfeindlicher Autoren, die auf das Motto ,écrasez l’infâme‘ gestimmt sind, ganz abgesehen? Es wäre auch in hohem Masse gefährlich, wenn man sich dabei beruhigen wollte, dass im Sinne des Gerichtsspruches die historische Auffassung freigegeben ist, während die „erdichteten oder entstellten Thatsachen“ das Kriterium der Strafbarkeit bilden würden; denn vielfach ist ja eben noch die Feststellung der Thatsachen die Aufgabe der Forschung, und in wissenschaftlichen Polemiken sieht gar oft der Eine Entstellungen und Erdichtungen, wo für den Andern sonnenklare Thatsächlichkeit besteht.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1892, Seite 166. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1892_07_167.jpg&oldid=- (Version vom 30.6.2023)