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Leben der letzten 50 Jahre die Naturforscherversammlungen geübt. Man deute es nicht zu kriegerisch, wenn wir sagen: solche Versammlungen sind ein Kampfmittel, eine vortreffliche Angriffswaffe für neue Richtungen, die sich durchsetzen wollen, gleich dienlich aber auch zur Abwehr, wenn es gilt, bedrohte Interessen zu behaupten. Sie sind das wirksamste Mittel, die Kräfte zu sammeln, die Verständigung unter denen, die in ihrer Grundrichtung übereinstimmen, zu fördern, und Propaganda in der öffentlichen Meinung zu machen. Ihre eigentliche Berechtigung also haben solche Versammlungen, wenn Fragen die das vitale Interesse der Gesammtheit berühren, aufgerührt sind, oder wenn das Bedürfniss besteht, Gährungsprocesse, die alle angehen, zu klären.

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In solcher Lage aber ist, scheint mir, heute die Deutsche Geschichtswissenschaft. Mit einer Kraft, die nicht unterschätzt werden darf, pocht die Forderung, mehr als bisher dem Leben und nicht der Schule zu dienen, an ihre Pforten. In drohender Haltung naht sich ihr zugleich von anderer Seite das Verlangen, politischen Interessen zu dienen. Für den Leser dieser Zeitschrift bedarf es nicht erst der näheren Ausführungen darüber, dass es geboten ist, nach zwei Seiten Front zu machen. Allerdings sind die Dinge so seltsam verschoben, dass das dringendere Interesse jetzt, wenigstens für Norddeutsche Verhältnisse, in der Abwehr liegt. Gar mancher, den die naturgemäße Fortentwicklung unserer Wissenschaft und der Zeitverhältnisse auf die Seite der Reformer führen müsste, sieht sich in schroffe Opposition gedrängt gegen alles, was auch nur entfernt Bestrebungen fördern könnte, die der Ruin aller Historie sind.

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Es ist eigentlich nur verwunderlich, dass nicht längst eine solche Versammlung stattgefunden hat. Vor einem Menschenalter wären unter ähnlichen Verhältnissen die Deutschen Historiker wahrscheinlich ganz anders in Bewegung gerathen. Ist der Gemeingeist, ist der Muth, Farbe zu bekennen, heute schwächer geworden? Weitverbreitet ist die resignirte Auffassung: was geht es uns an, und was können wir im Grossen ausrichten? Seien wir still, begnügen uns damit, möglichst unscheinbar, jeder an seiner Stelle, soweit es geht, passiven Widerstand zu leisten und lassen den Sturm so über uns fortbrausen. Und doch geht es uns alle gar sehr an, wie Geschichte gelehrt wird, ob etwa nicht nur aus Unverständniss, sondern bewusst und absichtlich für Geschichte ausgegeben wird, was nicht Geschichte ist. Ein wichtiges Interesse der geistigen Entwicklung unserer Nation ist hier in unsere Hand gegeben, und wir dürfen uns nicht damit beruhigen, dass manche Pläne nicht ganz ernst zu nehmen sind und durch Ausgestaltungsversuche am sichersten ad absurdum geführt werden. Inzwischen kann Unheil genug geschehen, und Hand in Hand mit gewissen allgemein gehaltenen, offenbar lebensunfähigen Ideen geht eine sehr reale Einwirkung auf die Einzelheiten des Unterrichts, auf die in dieser Zeitschrift gelegentlich hingewiesen ist. Die gelehrte Welt sollte diese Minirarbeit an der Basis der nationalen Bildung nicht zu gering schätzen.

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Wenn die Versammlung nun dazu Stellung nehmen soll, so handelt es sich offenbar um eine Grenzregulirung zwischen Geschichtswissenschaft und Politik, aber nicht entfernt um politische, sondern um wissenschaftliche

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1892, Seite 456. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1892_07_457.jpg&oldid=- (Version vom 17.6.2023)