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möglich, eine solche Mischung verschiedenartiger Bestandtheile daraus zu erklären, dass uns kein fertiges Buch, sondern ein Entwurf oder ein Collegienheft vorliege. Aber dass gerade diese Schrift in der Gestalt, in der sie überliefert ist, für das Publicum bestimmt war, beweist der sorgfältig durchgearbeitete Styl. Wenn der Inhalt nicht dieselbe Sorgfalt zeigt, so muss dem Verfasser entweder die Fähigkeit oder der Wille gefehlt haben. Niemand bestreitet, dass er ausgezeichnete Nachrichten aufbewahrt hat und der neueren Forschung ein werthvolles Material liefert. Aber das thun auch die geistlosesten Compilatoren der späten Kaiserzeit, wenn sie gute Quellen benutzen. Wo sich Gelegenheit bietet, zu beobachten, was der Verfasser selbständig an kritischem Urtheile und historischem Verständnisse leistet, da gewinnen wir, wie sich aus den Arbeiten der verschiedensten Forscher übereinstimmend ergibt, ein recht ungünstiges Bild.

Es fragt sich, ob wir verpflichtet sind, nach diesem Ergebnisse die Anschauung zu berichtigen, die wir bisher nach den acht Büchern der Politik von dem Historiker Aristoteles hatten. Es sind nur zwei Wege denkbar, einer solchen Consequenz auszuweichen. Einerseits könnte es einer sorgfältigen Interpretation gelingen, die in der Schrift vom Staate der Athener nachgewiesenen Anstösse zu beseitigen oder auf ein so geringes Mass zu reduciren, dass sie einem Aristoteles keine Schande machen würden; andererseits käme die Annahme in Betracht, dass diese Schrift nicht von Aristoteles selbst verfasst sei.

Bei der Erwägung dieser beiden Möglichkeiten ist eine doppelte Gefahr zu vermeiden. Die Achtung vor der wissenschaftlichen Grösse des Aristoteles könnte den, der von seiner Autorschaft im Voraus überzeugt ist, verleiten, die vorgefundenen Fehler mit befangenem Auge zu betrachten, sie unwillkürlich für geringer anzusehen, als sie sind. Ein Andrer wieder, der sich von dem schweren Gewichte jener Fehler überzeugt hat, muss auf seiner Hut sein, dass er nicht, ebenfalls in der Sorge um den Ruhm des alten Philosophen, eins seiner Werke ihm abspricht. Denn von vornherein undenkbar wäre es ja nicht, dass Aristoteles wirklich ein Historiker von mässiger Einsicht und Zuverlässigkeit gewesen, dass sein grosses Werk über Politik, aus dem sonst das Gegentheil geschlossen wurde, bisher falsch

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Verschiedene: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freiburg i. Br.: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr, 1892, Seite 2. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1892_08_002.jpg&oldid=- (Version vom 24.2.2023)