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Ludo Moritz Hartmann: Zur Geschichte der antiken Sklaverei. In: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Bd. 11 (1894), 1–17

Zustandes aus dem Auge lassen müssen, dass im Einzelfalle der „Schwächere“ nicht dem „Stärkeren“, sondern der ganzen Gesellschaft unterliegt. So hat denn auch Plato die Lehre von der Rechtfertigung der Sklaverei durch die natürlichen Unterschiede der menschlichen Anlagen nicht anerkannt und hat sogar das Bild seines, allerdings utopischen Staates zu zeichnen versucht, ohne der Sklaverei einen Platz darin einzuräumen. Auch für diese theoretische Construction finden sich aber Anhaltspunkte in den gleichzeitigen thatsächlichen Verhältnissen. In den entwickelten Gewerbe- und Handelsstädten Griechenlands, z. B. in Athen und Syrakus, war es dahin gekommen, dass Bürger und Soldat nicht mehr gleichbedeutende Begriffe waren. Söldnerheere begannen an die Stelle der Miliz zu treten, und in diesen Städten gab es eine nicht unbedeutende Classe der Bevölkerung, die nicht mehr in den Krieg zog und auch nicht Geld genug besass, um sich Sklaven halten zu können, ἄδουλοι, ein freies Proletariat, das sich mit seiner Hände Arbeit ernähren musste; schon Ende des 4. Jahrhunderts scheint diese Classe in Athen die Mehrheit der Bevölkerung ausgemacht zu haben.

Jedenfalls rechtlich ursprünglich in derselben Lage, wie jene Attischen Hörigen, waren die Elemente, aus denen sich in Rom die plebs entwickelt hat; wenn auch die Römische Geschichte erst auf einer Stufe wirthschaftlicher Entwicklung einsetzt, auf der auch andere Ursachen die Entstehung der Hörigkeit bewirken konnten, so ist doch die spätere Entwicklung in Rom dieselbe, wie in Athen, ebenso wie die Quellen der Sklaverei hier und dort dieselben sind. Und hier wie dort hat man auch keinen Grund die thatsächliche Lage der Sklaven in einen Gegensatz zu ihrer rechtlichen zu setzen, indem man das Schlagwort von den „patriarchalischen Zuständen“ ausgibt – man weiss aus moderneren Zeiten, was von diesen Idealen zu halten ist – und die romantischen Dichtungen der Enkel über jenes goldene Zeitalter wiederholt. Mögen wir auch von unserem modernen Standpunkte aus vor dem Bilde schaudern, das uns die überlieferten Rechtssätze aufzwingen, ihre Anwendung abzuleugnen haben wir kein Recht, wenigstens kein Recht, wenn wir uns in die Zeit zurückversetzen, in der sie entstanden sind, in der der Fremde rechtlos und der Sklave ein Fremder war, in der das, was wir unter allen Umständen „grausam“ nennen,

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Ludo Moritz Hartmann: Zur Geschichte der antiken Sklaverei. In: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Bd. 11 (1894), 1–17. Mohr, Freiburg i. Br. 1894, Seite 5. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_DZfG_1894_11_005.jpg&oldid=- (Version vom 4.5.2023)