Seite:De Die Chinesische Mauer (Kraus) 06.jpg

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als Schmuck trug? Nun hat sie ein gelbes Halsband, das ihr den Atem nimmt. Sie, die nicht beten konnte, ohne zu huren. Sie, die nicht huren konnte, ohne zu beten! Die die Sünde profaniert hat durch die Reue, die Lust versüßt hat durch die Qual. Sie, die in jenem unerforschten Trugschluß, der 500 nach Confucius in die Welt gesetzt wurde, ein ewiges Sterben ertrug und um hellerer Hoffnung willen die dunkle Erfüllung in Kauf nahm. Sie, deren Leben Todesangst war und Furcht vor dem Leben. Da geschah es ihr, daß sie, nicht wissend, wo ihre Pflicht und wo ihre Lust sei, gewarnt und verführt, auf dem Wege, wo Herzklopfen die Tür der Freude öffnet, in den Opiumnebel geriet, der lichtere Seligkeit als selbst der Weihrauch ihr verhieß. Da geschah es ihr, daß sie an die gelbe Hand stieß, die sie karessierte, würgte und in den Koffer packte. Die Knie durch Stricke unter das Kinn gezogen, das Gesicht mit ungelöschtem Kalk beworfen– so kam sie aus dem blauen Himmelbett in den Koffer ... Und nun riecht es in der Welt nach Verwesung.

Es ist das größte Ereignis, das die moralische Menschheit erlebt hat, seitdem ihr das Ereignis der Moral widerfuhr. Dazwischen lagen Taten und Zufälle, Entschlüsse des Geistes und Widerrufe der Natur. Siege und Verluste einer erdenstolzen Technik, die durch ein Achselzucken der Erde erst zum Problem erhoben wird. Hier aber hat die himmelsichere Ethik ihr Messina erlebt. Hier ist alles

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Karl Kraus: Die Chinesische Mauer, Leipzig 1914, Seite XX. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Die_Chinesische_Mauer_(Kraus)_06.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)