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im Auge behalten müssen!“ Stets hat er sich als der schneidige, unabhängige Kritker erwiesen, der weder nach oben noch nach unten Concessionen macht, ja selbst mit Hinansetzung aller grammatikalischen Rücksichten gegen Uebelstände energisch Stellung zu nehmen bereit ist. Der reformatorische Eifer berührte sympathisch, wenn er, ein eingewurzeltes Vorurtheil bekämpfend, dem Schauspieler Martinelli eine „breite, behagliche Gemüthlichkeit“ nachrühmte. Als Ironiker stand er allzeit auf eigenen Gänsefüsschen, und wenn es die Geisselung des Wiener Komödiantencultus galt, drohten in der Druckerei die Anführungszeichen auszugehen; denn immer neue uninteressante Seiten wusste er diesem Thema abzugewinnen. Einige Fremdworter kamen ihm so neu vor, dass er es mit ihnen immer wieder versuchen zu müssen glaubte; so behauptete er stets, dass Herr Reimers ad spectatores spreche und dass das Fräulein Bleibtreu karyatidenhaft sei. Vielleicht war hier die Freude, Ausdrücke, die man sonst erst im Obergymnasium kennen lernt, schon nach vier Classen zu beherrschen, doch etwas zu stark betont.

Eines Tages liess er sich Muther’s „Geschichte der Malerei des XIX. Jahrhunderts“ als Recensionsexemplar kommen und ward so Kunstkritiker. Als bald darauf die Muther-Hetze losging, der berühmte Kunsthistoriker vielfach des Plagiats beschuldigt und Alles hervorgeholt wurde, was bis dahin in Deutschland in seinem Fache geschrieben worden war, erzählte man sich, Muther habe auch unsern Recensenten benützt.

Im journalistischen Dienste hart mitgenommen, hat sich der Literat bis heute doch seine Eigenart zu wahren gewusst. Die Verwechslung des Dativs mit dem Accusativ gelingt ihm noch immer mit unverminderter Jugendfrische. Anfänglich hatte er wohl mit dem Widerstand der Setzer zu kämpfen, die bekanntlich immer klüger sein wollen als der Schriftsteller und gerne corrigiren, weil sie für undeutsch ansehen, was individuellster Ausdruck einer künstlerischen Persönlichkeit ist, aber bald lernten sie die Eigenart unseres Autors respectiren, und sein Talent setzte sich durch. Ungehindert konnte er sich nun ausleben, und man erkannte ihn auch in nicht unterzeichneten Artikeln. Wenn er z. B. bei einer alternden Schauspielerin den „heissen Athem“ vermisste, „der Einem nur aus kindlichem Mädchenbusen anweht“, so wäre es ein Uebriges gewesen, hier auch noch seine Chiffre hinzuzufügen. Selbstverständlich begegnet er die Leute, aber auch diesen Accusativ

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Karl Kraus: Die demolirte Literatur. Wien: Wiener Rundschau, 1897, Seite 282. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Die_demolirte_Literatur_Kraus_14.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)