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von den Römern bewohnt wurde und mit zwei alten Thürmen seinen mittelalterlichen Werth belegt, mit den zwei abgekommenen Warten, welche einst aus den Burgen ritterlicher Geschlechter aufgeragt, die längst verschollen sind. Weiter oben zeigt sich Burgeis und die Fürstenburg und das Stift Marienberg, und abwärts davon am Bergsaum der weiten Wiesen, welche von Erlen beschattet die Etsch durchströmt, liegen Schleiß und Laatsch, reich durchgrünt von Obstbäumen, und das Städtchen Glurns, ehedem als Handelsort von Wichtigkeit und in seinen engen Mauern reiches Leben nährend, jetzt ein stilles Nestchen, ein „rotten borough,“ wo fast nur mehr Fußgänger zusprechen, da es außer dem Zug der Heerstraße liegt. Seine starken Zinnen erheben sich noch wehrhaft über seine Dächer, aber die Gräben hat der Friede ausgefüllt und üppige Gärten darauf angelegt. Zwischen Laatsch und Glurns geht das Thal von Taufers ein, auf dessen grüner Hochebene die alten Raubschlösser Rotund und Reichenberg, dessen Herren einst die Schenken des Bisthums Chur gewesen, und der Thurm von Helfmirgott erscheinen, letzterer so benannt, weil sich in alten Tagen von seiner Höhe mit solchem Rufe eine Jungfrau stürzte, um vor dem Reitersmann, der sie bedrängte, ihre Unschuld zu retten. Auch hat ihr Gott geholfen – sie ging unversehrt von dannen, der Verfolger aber entsetzte sich und ward ein Büßer. Dahinter geht’s ins romanische Münsterthal in Graubündten, wo das Frauenstift, das Kaiser Karl der Große gegründet haben soll.

Unter Glurns liegen die weiten Mauern von Lichtenberg und Agums mit vielbesuchter Wallfahrtskirche und Prad, der Geburtsort der beiden gelehrten Primisser, wovon der eine Cassian als Mönch zu Stams gestorben 1771, der andere Johann Baptist als Custos des Münz- und Antikencabinets und der Ambraser Sammlung zu Wien 1815. Dahinter gegen Süden über grünen Alpen und grauen Schrofen steigt schweigsam und weiß und ungeheuer, alle Nachbarn weit überragend, der Ortles empor, ein titanischer Kegel, jetzt herrlich beschienen von der milden verklärenden Morgensonne. Auf der andern

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Ludwig Steub: Drei Sommer in Tirol. München 1846, Seite 277. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Drei_Sommer_in_Tirol_(Steub)_285.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)