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Sie spähte nach dem Sänger durch’s duft’ge Dämmerlicht;

Er sah ihr Antlitz leuchten, sie aber sah ihn nicht;
Doch immer holder tönte der mächt’ge Wundersang,
Bis er wie Geisterflüstern in’s Morgenroth verklang.

Gekommen war die Sonne, die Jungfrau stand und sann,

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Ihr brach in Lust und Sehnen der Minne Morgen an.

Es kommen oft im Frühling die Veilchen über Nacht,
Doch schneller siegt im Herzen lenzjunger Liebe Macht.

Oft sah sie seitdem lauschend hinab im Mondenlicht;
Ob sie vergebens lauschte, verbürgt die Märe nicht.

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Doch nie erschien der Sänger, sie hörte nur das Lied,

Und bebte, wenn es nahte, und klagte, wenn es schied.

Sie ahnte, daß sie liebte, doch wußte sie nicht wen?
Da war’s um ihre Ruhe und leichten Sinn gescheh’n.
Vom Wachen und vom Weinen ward ihr die Wange bleich:

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„Ach, dürft’ ich ihn nur schauen, wie wär’ ich wonnereich!“
Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Hertz: Gedichte. Hoffman und Campe, Hamburg 1859, Seite 211. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Gedichte_(Hertz_W)_217.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)