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daß es mit dem Rico noch ein wenig draußen bleiben durfte.

An den Sommerabenden saß sie immer vor dem Häuschen auf dem Holzstumpf, der da lag; und oft standen Stineli und Rico bei ihr und sie erzählte ihnen etwas. Wenn dann die Betglocke zu läuten anfing vom Türmchen, so sagte sie: „Jetzt müßt ihr jedes ein Vaterunser beten, und das dürft ihr nie vergessen, daß man am Abend sein Vaterunser beten muß; dazu läutet die Betglocke.“

„Und seht, Kinder“, sagte die Großmutter von Zeit zu Zeit einmal wieder, „ich habe schon lange gelebt und viel gesehen, und ich kenne nicht einen, der nicht einmal in seinem Leben sein Vaterunser nötig gehabt hätte, aber manchen, der es mit Angst gesucht und nicht mehr gefunden hat, wenn die Not da war.“ Dann standen Stineli und Rico ganz andächtig da und jedes betete ein Vaterunser.

Jetzt war es Mai und eine kleine Zeit mußte die Schule noch dauern, lange konnte es nicht mehr sein, denn es grünte unter den Bäumen und große Strecken waren ganz frei von Schnee. Rico stand schon unter der Tür seit einer guten Weile und stellte diese Betrachtungen an. Dabei schaute er immer wieder nach der Tür drüben, ob sie noch nicht aufgehen wollte. Jetzt ging sie auf und Stineli kam herausgesprungen.

„Bist du schon lang dagestanden? Hast du wieder gestaunt, Rico?“ rief es lachend. „Siehst du, heut’ ist es noch früh, wir können langsam gehen.“

Jetzt nahmen sie einander bei der Hand und wanderten der Schule zu.

„Denkst du immer noch an den See?“ fragte Stineli im Gehen.

Empfohlene Zitierweise:
Johanna Spyri: Heimatlos. Gotha 1878, Seite 10. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Heimatlos_(Spyri)_010.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)