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er alle Tage in den Wald hin, bis er einstmals die Zauberin kommen sah, die sprach:

„Rapunzel, Rapunzel!
laß dein Haar herunter.“

Darauf sah er wohl, auf welcher Leiter man in den Thurm kommen konnte. Er hatte sich aber die Worte wohl gemerkt, die man sprechen mußte, und des andern Tages, als es dunkel war, ging er an den Thurm und sprach hinauf:

Rapunzel, Rapunzel,
laß dein Haar herunter!

da ließ sie die Haare los, und wie sie unten waren, machte er sich daran fest und wurde hinaufgezogen.

Rapunzel erschrack nun anfangs, bald aber gefiel ihr der junge König so gut, daß sie mit ihm verabredete, er solle alle Tage kommen und hinaufgezogen werden. So lebten sie lustig und in Freuden eine geraume Zeit, und hatten sich herzlich lieb, wie Mann und Frau. Die Zauberin aber kam nicht dahinter, bis eines Tages das Rapunzel anfing und zu ihr sagte: sag’ sie mir doch Frau Gothel, sie wird mir viel schwerer heraufzuziehen als der junge König.“ Ach du gottloses Kind, sprach die Zauberin, was muß ich von dir hören, und sie merkte gleich, daß sie betrogen wäre, und war ganz aufgebracht. Da nahm sie die schönen Haare Rapunzels, schlug sie ein paar Mal um ihre linke Hand, griff eine Scheere mit der rechten und ritsch, ritsch, waren sie abgeschnitten. Darauf verwieß sie Rapunzel in eine Wüstenei, wo es ihr sehr kümmerlich

Empfohlene Zitierweise:
Brüder Grimm: Kinder- und Haus-Märchen Band 1 (1819). Berlin: G. Reimer, 1819, Seite 68. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Kinder_und_Hausm%C3%A4rchen_Grimm_1819_V1_068.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)