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warum insonderheit die Morgenländer so viel auf diese Spruchweisheit hielten.

Ein Spruch nämlich setzt Weisheit, Weisheit setzt Erfahrung voraus; und ich wüßte kaum, was das menschliche Leben dem Verstande für eine bessere Ausbeute liefern könnte, als eben diese aus Erfahrung gebildete, in eine anziehende Form gekleidete Weisheit. Wenn diese nun ein Spruch heißt: so sind Sprüche gleichsam das ganze Resultat des beobachtenden menschlichen Verstandes; nur man muß Verstand haben, ihren Verstand zu fassen, und Gefühl haben, die Schönheit ihres Ausdrucks zu fühlen.

Glaube doch niemand, daß an jedem Gegenstande Jeder dasselbe sehe und wahrnehme; sonst würde es keine verschiedene Meinungen in der Welt geben. Glaube niemand, daß jede verwickelte Aufgabe im menschlichen Leben Jeder auf gleiche Weise sich auflöse oder vielleicht nur irgend aufzulösen, die Besonnenheit und geläufige Uebung habe: denn wäre dies, so würde es keine

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Johann Gottfried Herder: Zerstreute Blätter, Vierte Sammlung. Carl Wilhelm Ettinger, Gotha 1792, Seite 108. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Zerstreute_Bl%C3%A4tter_IV_(Herder)_126.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)