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Naturen“, des schöpferischen Genies[1]. Aber kein Florentiner hätte so etwas schaffen oder auch nur erdenken können. Es ist die deutsche Schwere und Tiefe, das Verhaftetsein des Geistes im Göttlichen und im Kreatürlichen zugleich, die Ruhe, die nicht aus dem Erfüllthaben, sondern aus dem Erfülltsein hervorgeht, der menschliche Geist, der sich wirklich als Maß der Dinge fühlt. Nicht grundlos, wenn auch philologisch verfehlt, war es, wenn man Ideen des Cusaners zur Erklärung dieses abgründigen Werks herangezogen hat.

Damals als Dürer seine Melencolia schuf, war die nationale Romantik nicht mehr die einzige, ja nicht einmal mehr die herrschende Form des deutschen Humanismus. In demselben Jahr, 1514, erschienen die Clarorum virorum epistolae, die Reuchlin herausgab, um sich in seinem Streit mit den deutschen Dominikanern über die Judenbücher mit der literarischen Bundesgenossenschaft des humanistisch gebildeten Deutschland zu decken. Im nächsten Jahr erscheint der erste Teil der Epistolae obscurorum virorum, und dieser ist aus einem ganz andern Geist geboren, als ihn die maximilianische Romantik zeigt, aus dem Geist der religiösen Aufklärung. Diese wird die zweite Form der deutschen humanistischen Bewegung. Ihr Urheber und Führer ist Erasmus[2].

Betrachtet man den deutschen Humanismus in seiner Wirkung und Bedeutung für die nächste Generation und für das umwälzende Ereignis der Reformation, so gibt es keine Gestalt, die es an Wichtigkeit mit Erasmus aufnehmen kann. Daher ist die Frage nach dem Wesen des erasmischen Denkens und seinen Zielen fast eine Mittelpunktsfrage in der Diskussion über den deutschen Humanismus geworden. In der Tat ist sie außerordentlich verwickelt. Sie kann aber nicht von einer Betrachtung der bisherigen Entwicklung des deutschen Humanismus aus oder von der des deutschen Geistes gelöst werden. Denn Erasmus kommt von diesem nicht her. Sie ist vielmehr ein Problem der abendländischen Geistesgeschichte überhaupt, wie sie sich am Ausgang des Mittelalters darbietet, und auch da vielleicht das wichtigste für eine geistesgeschichtliche Betrachtung. Sie kann auch da nicht verstanden

  1. Die Beziehungen zu Ficinos Temperamentslehre hat wohl zuerst Giehlow gesehen (Mitt. d. Gesellschaft f. vervielfältigende Kunst 1903).
  2. Hierüber wird demnächst die Arbeit eines meiner Schüler Näheres bringen.
Empfohlene Zitierweise:
Paul Joachimsen: Der Humanismus und die Entwicklung des deutschen Geistes. Aus: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 8. 1930, Seite 449. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_humanismus_(joachimsen)_031.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)