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Ihr eigentlicher Repräsentant ist Hieronymus. Diese christliche Antike liefert die Mittel, die Lehre Christi in ihrem wahren Verstande zu erfassen. Sie liefert die Waffen, mit denen Erasmus die ganze scholastische Entwicklung als Verfälschung des wahren Christentums ablehnt, ohne doch das Dogma und seine weltanschaulichen Folgerungen in irgend einem Punkte direkt anzugreifen[1]. Sie ist gleichsam der innere Ring, der sich um die Lehre Christi herumlegt. Diesem entspricht ein äußerer, die humane Lebensweisheit. Sie ist von den Denkern des heidnischen Altertums klassisch formuliert. Sie bietet für das Leben des Christen in der Welt auch jetzt noch alles Notwendige. Sie kann zwanglos auf die Person und die Lehre Christi bezogen werden. Der Kreis, den diese Bildung um den der christlichen Antike legt, ist gegen ihn frei schwebend gedacht, aber er hat denselben Mittelpunkt, nämlich Christus selbst.

Es ist in diesem Zusammenhang nicht möglich und auch nicht nötig, die einzelnen Bestandteile des erasmischen Gedankenbaus in ihrer Herkunft und in ihrer Stellung im System zu erläutern. Auch auf die wichtige Frage, wie sich die erasmische christliche Philosophie zur Theologie des Mittelalters verhält, kann ich nur mit einem Wort eingehen. Für unsern Zusammenhang kommt es zunächst darauf an, zu erkennen, wie Erasmus selbst zu diesen Ideen gelangt ist, also den geschichtlichen Ort seines Wirkens innerhalb der allgemeinen Geistesgeschichte zu bestimmen. Die Frage ist zunächst eine biographische. Eine Biographie des Erasmus, die letzten Ansprüchen genügte, besitzen wir noch nicht, sie wird vielleicht jetzt, wo sich die klassische Ausgabe seines Briefwechsels durch P. S. Allen ihrer Vollendung nähert, möglich sein. Aber auch da wird sie noch auf die Schwierigkeit stoßen, daß die geistige Atmosphäre, in der Erasmus gelebt hat, für uns kaum mehr ganz vorstellbar, jedenfalls für deutsche Menschen besonders schwer nachzuempfinden ist[2]. Was wir jetzt schon sagen können, ist etwa Folgendes:

Es gibt in der geistigen Entwicklung des Erasmus zwei negative und zwei positive Elemente. Die negativen sind sein Aufenthalt in dem Kloster Steyn bei Gouda und sein Studium in dem Collegue

  1. Darüber der auch für alles Folgende zu vergleichende Aufsatz von Gerhard Ritter, Die geschichtliche Bedeutung des deutschen Humanismus (Histor, Zeitschrift Bd. 127 [1923], S. 393 ff.).
  2. S. bes. Allen nr. 1436 und die Bemerkungen Huizingas.
Empfohlene Zitierweise:
Paul Joachimsen: Der Humanismus und die Entwicklung des deutschen Geistes. Aus: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 8. 1930, Seite 451. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_humanismus_(joachimsen)_033.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)