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überflüssig werden. Und daraus entsteht ein Weltbild, dessen wichtigstes Problem das Verhältnis des Naturzusammenhangs und der Gnadenwahl Gottes ist, dasselbe Problem, das sich aus dem Zusammenstoß der ersten Formen des Christentums mit der griechischen Philosophie ergeben und an dem das ganze Mittelalter bis auf Thomas von Aquin gearbeitet hatte. Zwingli aber löst es nicht wie Thomas mit aristotelischen, sondern mit platonischen Mitteln. Das heißt, Zwingli konstruiert einen Kosmos, dessen oberstes Prinzip die Güte Gottes ist. Sie schließt alle seine andern Eigenschaften ein, sie ist zugleich Licht, Gerechtigkeit, Einfachheit, Ganzheit, d. h. Wahrheit. Von dieser Güte Gottes soll alles Geschaffene durchwaltet sein, alle Dinge haben ihr wahres Sein in Gott und alle Dinge sind hinsichtlich ihres Seins und ihrer Existenz göttlich. Damit ist die göttliche Vorsehung zunächst einmal als Seinsgrund alles Geschaffenen, auch des Menschen gesetzt. Ein durchaus philosophischer Gedankengang. „Was verschlägt es“, sagt Zwingli, „das Göttliche und Religiöse philosophisch zu nennen?“ Es ist bekannt, wie stark hier auf ihn die Florentiner, speziell Pico, gewirkt haben. Diese kosmisch gesehene Vorsehung wird Prädestination im religiösen Sinne erst durch die Frage, wie denn nun der Mensch, dem Gott doch ein besonderes Gesetz gegeben habe, in dieser providentiell geordneten Welt stehe. Sie wäre für Zwingli überhaupt nicht lösbar, wenn er das Gesetz ebenso wie Luther nur als ein Mittel der επίγνωσις τῆς ἁμαρτίας, als Stachel zur Erkenntnis der Sünde ansehen würde. Zwingli polemisiert denn auch ausdrücklich dagegen. Für ihn ist das Gesetz nur ein anderer Ausdruck des beständigen Gotteswillens. Gott hat es den Menschen aus zwei Gründen gegeben: damit sie ihn in seinem Wesen genauer kennen lernen, und damit es ihnen möglich wird, schon auf Erden mit ihm Freundschaft zu schließen.

Ich denke, damit wird das Problem des Gesetzes bei Zwingli kein anderes als das platonische Problem der δικαιοσύνη und die Lösung ist hier wie dort eine pädagogische: der Weltlauf ist eine Erziehung des Menschengeschlechts auf Gott hin. Das ist bereits bei Erasmus so. Es ist die Auffassung der ganzen religiösen Aufklärung bis auf Lessing.

Zwingli biegt diese Anschauung in das echtreligiöse zurück durch die Beziehung auf den Sündenfall. Aber dieser ist nicht bloß ein Fall des Menschen, sondern auch einer der Engel und aller

Empfohlene Zitierweise:
Paul Joachimsen: Der Humanismus und die Entwicklung des deutschen Geistes. Aus: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 8. 1930, Seite 473. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_humanismus_(joachimsen)_055.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)