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Ergebnis sind die Loci Communes. Die Mittel der Beweisführung sind die Kategorien der humanistischen Rhetorik, wie sie Agricola zusammengefügt hat, mit Berücksichtigung der hermeneutischen Grundsätze des Erasmus, der aus den logischen Grundbegriffen theologische, aus den loci des Aristoteles loci communes im Sinne Ciceros gemacht hatte. Das Ergebnis ist eine Theorie der inneren Erfahrung, die ganz auf die reformatorische abgestellt ist und sich anheischig macht, diese Erfahrung in eine logische Deduktion von allgemein gültigem Charakter zu verwandeln.

Das Werkchen hat eine ungeheure Wirkung gehabt. Man sagt nicht zuviel, wenn man behauptet, daß der ganze wissenschaftliche Geist des älteren Protestantismus von ihm bestimmt worden ist. Die Wirkung war eine doppelte. Zunächst schien das System der Loci, wie es aus allgemein wissenschaftlichen, humanistisch kritischen Überlegungen hervorgegangen war, geeignet, nicht nur die Einheit der Schrift zu beweisen, sondern auch eine Wertlehre für den ganzen Bereich des weltlichen Daseins zu formen. Das hat Melanchthon selbst noch in den späteren Bearbeitungen der Loci und außerdem in seinen Lehrbüchern der Ethik, der Physik und so weiter getan. Sodann: die Loci sollten zwar kein Kommentar sein, der den Weg zur Schrift selbst verbaute, aber eine „Methode“, die einen sicheren Weg zu der Wahrheit der Schrift bot und damit zugleich einen Schutz gegen die „Prophetie“, die sich vermaß, mit Zungen zu reden und aus innerer Erleuchtung den Geist der Schrift gegen das Wort erhob. Damit sind die Loci ein Denkschema geworden, nicht weniger streng und nicht weniger verhängnisvoll als das scholastische, dem sie sich entgegensetzten, – Zwingli hatte sich das anders gedacht. Er schuf sich eine eigene „Prophezei“ in der schola tigurina, in der er einen höchst merkwürdigen Versuch machte, den humanistischen consensus omnium durch eine philologische Diskussion des Schriftworts zu einer Methode der religiösen Vergewisserung umzubilden. Es war die erasmische Welt in der reformierten Form.

Aber die siegreiche Lösung ist die Melanchthons gewesen. Es gibt ein melanchthonisches Wissenschaftssystem, das im Deutschland des 16. Jahrhunderts herrscht und erst nach langem Kampf gestürzt wurde. Lückenlos und bedenkenlos war es freilich schon zur Zeit seiner Herrschaft nicht. Die Verbindung von Glaubenserfahrung und logischer Deduktion erwies sich auf die

Empfohlene Zitierweise:
Paul Joachimsen: Der Humanismus und die Entwicklung des deutschen Geistes. Aus: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 8. 1930, Seite 475. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_humanismus_(joachimsen)_057.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)