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Wilhelm Goldbaum: Wilhelmine von Hillern. Eine literarische Studie.

Rettungswerk, das die „Geier-Wally“ an dem Bären-Joseph vollbringt („Die Weiber beten laut, die Kinder schreien. Die Männer fangen an, langsam aufzuwickeln, aber nur ein paar Hände – da widersteht das Seil! Es ist nicht gerissen, es hält – Wally hat Fuß gefaßt! Und jetzt – horch! ein verhallender Ruf aus der Tiefe – und aus allen Kehlen bricht noch angstzitternd die Antwort. Wieder wird das Seil schlaff, sie wickeln nach, das wiederholt sich ein paarmal; es scheint, Wally klimmt an der Felswand empor. Mittlerweile ist es Tag geworden, aber ein schwerer kalter Regen rieselt herab und immer dichter wird das Nebelgemeng dort unten. Jetzt nimmt das Seil plötzlich eine schräge Richtung u. s. w.“) – urtheilt man, sagen wir, nach diesen und ähnlichen Proben, so ist das Geheimniß bald ergründet. Wilhelmine v. Hillern erzählt Alles, daß man es vor seinen eigenen Augen zu schauen meint; sie sieht es selbst, indem sie es schildert; es geht vor sich wie auf offener Bühne. Was ist gegen diese dramatische Unmittelbarkeit der sentimentale Eindruck der Novellen-Katastrophen einer andern vielgenannten Schriftstellerin? Und was verfängt gegen dieselbe der graue theoretische Einwand, daß nach dem Maße des weiblichen Könnens auch bei Frau v. Hillern die Kenntniß und Darstellung der weiblichen Charaktere diejenige der männlichen bei weitem übersteige? Daß zuviel Kraftaufwand der weiblichen Malerin nicht anstehe? Hat Jemand schon, wenn er Charlotte Wolter auf offener Scene vor sich sah, ihr im Geiste vorgeworfen, daß sie der Orthographie nicht völlig Herr sei? Oder hätte er gewünscht, daß sie, um weiblicher zu erscheinen, den Heroismus ihrer Rolle und ihres Talentes verleugne? Es ist ganz unzweifelhaft, daß die Novelle nicht in das Drama verpflanzt werden kann, ohne dasselbe in seiner Wirkung zu beeinträchtigen; aber welcher Gewinn der Novelle erwächst, wenn eine dramatisch geübte Hand sie führt, davon zeugen die Erzählungen der Frau v. Hillern, allen voran die „Geier-Wally,“ dann „Und sie kommt doch.“

Und Wilhelmine v. Hillern hat diese dramatisch geübte Hand von ihrer Mutter, von Charlotte Birch-Pfeiffer; sie hat sie auch von ihrer eigenen Bühnenvergangenheit her. Die gute Charlotte ist viel verlästert worden, beinahe soviel wie August v. Kotzebue, und beinahe mit ebenso zweifelhaftem Rechte. Es ist wahr, sie nahm ihre Stoffe, wo sie dieselben fand. Am lebhaftesten hat sich ja Berthold Auerbach dagegen gewehrt, den die Tochter mit dem Andenken der Mutter aussöhnte, indem sie dem Dichter der „Frau Professorin“ die „Geier-Wally“ zueignete. Aber griff Charlotte einmal nach einem Stoffe, so war er auch im Handumdrehen scenisch hergerichtet und so geschickt für die Bühne appretirt, daß seine dramatische Wirkung nie versagte. Sie lebte ein doppeltes Leben, eines in der Wirklichkeit, das andere hinter der Coulisse, und das letztere war das maßgebende. Mit erstaunlicher Sicherheit ergriff sie den fremden Stoff, dehnte und reckte, schnitt und strich, bis er bühnenfertig war. Dabei kam die ursprüngliche Poesie desselben meist zu Schaden und eine robuste Hausbackenheit war ihm octroyirt. Aber seine dramatischen Eigenschaften blieben ihm erhalten, ja sie wurden erhöht, denn Frau Charlotte wußte besser wie alle Männer, was die Bühne erheischt; sie war ein geborenes Theatergenie, welches sich[WS 1] übrigens auch in ihren Originalstücken, in der „Marquise von Villette“, „Kind des Glücks“, „Goldbauer“ etc. nicht verleugnet hat. Auf ihre Tochter Wilhelmine hat sich diese dramatische Intuition in edlerer Form und Art verpflanzt. Wilhelmine hat, soviel

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: üch
Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Goldbaum: Wilhelmine von Hillern. Eine literarische Studie.. Deutsche Rundschau. Herausgegeben von Julius Rodenberg. Gebrüder Paetell., Berlin 1880, Seite 111. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DeutscheRundschau_1880_23_111.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)