Seite:Deutsche Sagen (Grimm) V2 064.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.


Unter der weisen und kräftigen Herrschaft dieses Königes stand das Reich der Longobarden in Glück und Frieden; Theudelind, seine Gemahlin, war schön und tugendsam. Es begab sich aber, daß ein Jüngling aus dem königlichen Gesinde eine unüberwindliche Liebe zu der Königin faßte, und doch, seiner niedern Abkunft halben, keine Hoffnung nähren durfte, jemals zur Befriedigung seiner Wünsche zu gelangen. Er beschloß endlich das Äußerste zu wagen, und wenn er sterben müsse. Weil er nun abgemerkt hatte, daß der König nicht jede Nacht zu der Königin ging, so oft er es aber that, in einen langen Mantel gehüllt, in der einen Hand eine Kerze, in der andern ein Stäblein tragend, vor das Schlafgemach Theudelindens trat, und mit dem Stäblein ein oder zwei Mal vor die Thüre schlug, worauf alsbald geöffnet, und ihm die Kerze abgenommen wurde; so verschaffte er sich einen solchen Mantel, wie er denn auch von Gestalt genau dem Könige gleich kam.

Eines Nachts wickelte er sich in den Mantel, nahm Kerze und Stäblein zur Hand, und that zwei Schläge an die Thüre des Schlafzimmers; sogleich ward ihm von der Cämmerin aufgethan, die Kerze abgenommen, und der Diener gelangte wirklich in das Bett der Königin, die ihn für keinen andern, als ihren Gemahl hielt. Indessen fürchtete er, auf solches Glück möge schnelles Unheil folgen, machte sich daher bald aus den Armen der Königin, und gelangte auf

Empfohlene Zitierweise:
Brüder Grimm: Deutsche Sagen, Band 2. Nicolai, Berlin 1818, Seite 44. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutsche_Sagen_(Grimm)_V2_064.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)