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479.
Der Kelch mit der Scharte.
Cod. pal. 525. fol. 66b.


In den Zeiten, als Kaiser Heinrich der zweite starb, war ein frommer Einsiedel, der hörte einen großen Rausch von Teufeln in der Luft, und beschwor sie bei Gott; wo sie hinfahren wollten? Die bösen Geister sagten: „Zu Kaiser Heinrich.“ Da beschwor sie der gute Mann, daß sie ihm hinterbrächten, was sie geworben hätten? Die Teufel fuhren ihren Weg, aber der gute Mann betete zu Gott für des Kaisers Seele. Bald darauf kamen die Teufel wieder gefahren zu dem Einsiedel, und sprachen: „als die Missethat des Kaisers seine Gutheit überwiegen sollte, und wir die Seele in unsre Gewalt nehmen wollten, da kam der gesegnete Laurentius, und warf einen Kelch schnell in die Wage, daß dem Kelch eine Scherbe ausbrach, also verloren wir die Seele; denn derselbe Kelch machte die gute Schale schwerer.“ – Auf diese Bothschaft dankte der Einsiedel Gott seiner Gnaden, und that sie kund den Domherren von Merseburg. Und sie funden den Kelch mit der Scharte, als man ihn noch heute kann schauen. Der Kaiser aber hatte ihn einst bei seinen Lebzeiten dem heil. Laurenz zu Merseburg aus Gutthat geweihet.


Empfohlene Zitierweise:
Brüder Grimm: Deutsche Sagen, Band 2. Nicolai, Berlin 1818, Seite 176. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutsche_Sagen_(Grimm)_V2_196.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)