Seite:Deutsche Sagen (Grimm) V2 279.jpg

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war, trug sie immer große Lust nach süßen Speisen. Sie saß eines Tages bei Wiborad, einer frommen Klosterfrau im Gespräch, und bat sie um süße Äpfel. „Ich habe schöne Äpfel, wie sie arme Leute essen – sprach Wiborad – die will ich dir geben“ und zeigte ihr wilde Holzäpfel. Wendilgart nahm sie gierig und biß darein; sie schmeckten so herb, daß sie ihr den Mund zusammen zogen, warf sie weg, und sagte: „deine Äpfel sind sauer, Schwester; hätte der Schöpfer alle so erschaffen, so würde Eva keinen gekostet haben.“ Mit Recht führst du Even an – sprach Wiborad – denn sie gelüstet gleich dir nach süßer Speise. Da erröthete die edle Frau, und that sich hernach Gewalt an, entwöhnte sich aller Süßigkeiten, und gedieh bald zu solcher Frömmigkeit, daß sie vom Bischof den heiligen Schleier begehrte. Er wurde ihr gewährt, und sie ließ sich einkleiden, lebte auch fortan in Tugend und Strenge. Vier Jahre verflossen, da ging sie am Todestage Udalrichs ihres Gemahls nach Buchhorn, und beschenkte die Armen, wie sie alljährlich zu thun pflegte.

Udalrich war aber unterdessen glücklich aus der Gefangenschaft entronnen, und hatte sich heimlich unter die übrigen verlumpten Bettler gestellt. Als Wendilgart hinzutrat, rief er laut um ein Kleid. Sie schalt, daß er ungestüm fordere, gab ihm aber doch das Kleid, als dessen er bedurfte. Er zog die Hand der Geberin mit dem Kleide an sich, umfaßte und küßte sie wider ihren Willen. Da warf er seine langen

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Brüder Grimm: Deutsche Sagen, Band 2. Nicolai, Berlin 1818, Seite 259. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutsche_Sagen_(Grimm)_V2_279.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)