war, trug sie immer große Lust nach süßen
Speisen. Sie saß eines Tages bei Wiborad, einer
frommen Klosterfrau im Gespräch, und bat sie um
süße Äpfel. „Ich habe schöne Äpfel, wie sie arme
Leute essen – sprach Wiborad – die will ich dir geben“
und zeigte ihr wilde Holzäpfel. Wendilgart nahm
sie gierig und biß darein; sie schmeckten so herb, daß
sie ihr den Mund zusammen zogen, warf sie weg,
und sagte: „deine Äpfel sind sauer, Schwester; hätte
der Schöpfer alle so erschaffen, so würde Eva keinen
gekostet haben.“ Mit Recht führst du Even an –
sprach Wiborad – denn sie gelüstet gleich dir nach
süßer Speise. Da erröthete die edle Frau, und that
sich hernach Gewalt an, entwöhnte sich aller Süßigkeiten,
und gedieh bald zu solcher Frömmigkeit, daß
sie vom Bischof den heiligen Schleier begehrte. Er
wurde ihr gewährt, und sie ließ sich einkleiden, lebte
auch fortan in Tugend und Strenge. Vier Jahre
verflossen, da ging sie am Todestage Udalrichs ihres
Gemahls nach Buchhorn, und beschenkte die Armen,
wie sie alljährlich zu thun pflegte.
Udalrich war aber unterdessen glücklich aus der Gefangenschaft entronnen, und hatte sich heimlich unter die übrigen verlumpten Bettler gestellt. Als Wendilgart hinzutrat, rief er laut um ein Kleid. Sie schalt, daß er ungestüm fordere, gab ihm aber doch das Kleid, als dessen er bedurfte. Er zog die Hand der Geberin mit dem Kleide an sich, umfaßte und küßte sie wider ihren Willen. Da warf er seine langen
Brüder Grimm: Deutsche Sagen, Band 2. Nicolai, Berlin 1818, Seite 259. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutsche_Sagen_(Grimm)_V2_279.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)