Seite:Deutscher Dichterwald 135.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.


Im Tempel.

Der Priester schweigt, es sendet die Gemeine
Von halbbewegten Lippen stumme Bitte;
Andächtig gießet ihre Heil’genscheine
Die Sonne nieder in der Beter Mitte.

5
Dort steht, von ihrem Glanz umwallt, die Meine,

Die Hände faltet sie nach frommer Sitte,
Und neiget jetzt mit friedlicher Geberde
Ihr schönes Haupt demüthiglich zur Erde.

Du sel’ges Kind! wie fühl’ ich deine Nähe!

10
Kommt doch der Geist des Herrn auf mich hernieder.

In meiner Brust, so oft ich nach dir sehe,
Thut sich der Himmel auf und quellen Lieder;
Und wie ich ganz in dich verloren stehe,
Gebiert dein heil’ger Sinn in mir sich wieder.

15
Mein Auge senkt, mein Haupt sich, wie das deine,

Und dein Gebet, dein Wesen wird das meine.

Da weckt mich wunderbar aus meiner Stille
Der Glocken Klang und des Gesanges Wogen:
Es kommt dein Bild in unnennbarer Fülle

20
Auf allen Tönen nach mir zugeflogen,

Mein Geist ergießt sich durch die ird’sche Hülle,
Von Liedern und Gebeten hingezogen;
Ich bin bei dir, die Orgel hör’ ich rauschen,
Und mein’ an deiner frommen Brust zu lauschen.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Deutscher Dichterwald. Von Justinus Kerner, Friedrich Baron de La Motte Fouqué, Ludwig Uhland und Andern. J. F. Heerbrandt’sche Buchhandlung, Tübingen 1813, Seite 123. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutscher_Dichterwald_135.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)