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Graf Wilhelm von der Lippe.

Volkssage.

Im Norden unsres Lands, des lieben, alten,
Das sie vor langer Zeit Germania hießen,
Weil’s brüderlich zusammen hat gehalten,
Dem Ort nicht allzufern, wo sich ergießen

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Der Weser Fluten durch’s westphäl’sche Thor,

Um friedlich durch ein blühend Land zu fließen,
Steigt ehrenwerth ein alter Wald empor,
Groß, schattig, frisch, an Büschen reich und Bäumen,
Sie allesamt ein feierliches Chor,

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Und mitten drinn auf kaum behau’nen Räumen

Ein schönes Haus, doch nun beinah verfallen,
Bewohnt nur von vergang’ner Tage Träumen.
Weitdurch hört man die Tritte wiederhallen,
Die Thüren auf, am Boden Gräser schwankend,

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Und oben Einsturz drohend schon die Hallen,

Epheu sich kühn empor die Mauern rankend,
Des Gartens Pflanzen all’ ein wild Gestrippe,
Nicht mehr der einst genoss’nen Pflege dankend.
Graf Wilhelm wohnte hier, der von der Lippe,

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Nachdem er, Lenker krieggeübter Schaaren,

Vorbeigeschifft im Leben mancher Klippe.
Nicht konnt’ ihn Einsamkeit vor Leid bewahren,
(Wer scheitern soll, der scheitert noch im Hafen!)
Der süßen Gattin Tod mußt’ er erfahren.

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Drauf, nur bedacht geruhig einst zu schlafen
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Deutscher Dichterwald. Von Justinus Kerner, Friedrich Baron de La Motte Fouqué, Ludwig Uhland und Andern. J. F. Heerbrandt’sche Buchhandlung, Tübingen 1813, Seite 183. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutscher_Dichterwald_195.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)