Seite:Deutscher Dichterwald 240.jpg

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Eines Abend ergötzten sich die Knaben auf dem Rückweg vom Vater mit Spielen im Walde, und hatte sich Goldener vor allen so sehr im Spiele ereifert, daß er so hell aussah, wie das Abendroth. „Laßt uns zurückgehen! – sprach der Aelteste, es scheint dunkel zu werden.“ – „Seht da, der Mond!“ sprach der Zweite. Da kam es licht zwischen den dunkeln Tannen hervor, und eine Frauengestalt wie der Mond setzte sich auf einen der moosigen Steine, spann mit einer krystallenen Spindel einen lichten Faden in die Nacht hinaus, nickte mit dem Haupte gegen Goldener und sang:

„Der weisse Fink’, die goldene Ros’,
Die Königskron’ im Meeresschooß.“

Sie hätte wohl noch weiter gesungen, da brach ihr der Faden, und sie erlosch wie ein Licht. Nun war es ganz Nacht, die Kinder faßte ein Grausen, sie sprangen mit kläglichem Geschrei, das eine dahin, das andere dorthin, über Felsen und Klüfte, und verlor eines das andere.

Wohl viele Tage und Nächte irrte Goldener in dem dicken Wald umher, fand auch weder einen seiner Brüder noch die Hütte seines Vaters, noch sonst die Spur eines Menschen: denn es war der Wald gar dicht verwachsen, ein Berg über den andern gestellt und eine Kluft unter die andere.

Die Braunbeeren, welche überall herumrankten, stillten seinen Hunger und löschten seinen Durst, sonst

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Deutscher Dichterwald. Von Justinus Kerner, Friedrich Baron de La Motte Fouqué, Ludwig Uhland und Andern. J. F. Heerbrandt’sche Buchhandlung, Tübingen 1813, Seite 228. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutscher_Dichterwald_240.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)