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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853)

und den Lebensgenuß nicht anders, als in sogenanntem freundschaftlichen Umgang bei Bier und Wein und Gesang und unsinnigen Streichen zu finden wähnte, und meinen leidenden Zustand fast nur hauptsächlich deshalb verwünschte, weil er mich eben zur Entsagung jener vermeinten Lebensfreuden verurtheilte. Ja! welchen Heroismus wähnte ich es noch, mich zum Gebrauch der Wasserkur entschlossen zu haben, einer Kur, die ja, wie es allgemein heißt, die diätetische Entsagung in jeder Beziehung auf die Spitze trieb, Dies und Das zu genießen verweigerte, zu fasten vorschrieb, und was dergleichen ungeheure Forderungen mehr waren. Aber jetzt, jetzt – lieber Freund – und bei diesen Worten ergriff mich mein Wasserenthusiast bei der Hand und drückte sie fast krampfhaft innig – jetzt erst bin ich zu der rechten, wahren Erkenntniß der Worte gekommen, die einst ein großer, so oft verkannter und mißbrauchter Mensch predigte: die Füchse haben Gruben, und die Vögel unter dem Himmel haben Nester, aber des Menschen Sohn hat nicht, wo er sein Haupt hinlege. Entsagung predigte er, ein Postulat noch heute, wie damals an die Menschheit, die Christenheit. Predige heute Entsagung und Mäßigkeit, lehre Einfachheit der Natur und Lebensweise, empfehle Erhaltung und Stählung der Gesundheit – was wird Dir zur Antwort? ein schnödes, spöttisches Lächeln, vielleicht eine höhnische Abfertigung, und Du darfst zufrieden sein, wenn man Dich nicht als Narren verschreit. Wohl mögen daher noch Jahrhunderte, Jahrtausende vergehen, ehe nur dies eine Postulat der christlichen Lehre erfüllt wird, und nur schwer und langsam wird es immer mehr und mehr um sich greifen und allgemeineren Eingang verschaffen.“

Ein Gejauchze von unten herauf unterbrach hier meinen Freund, der bereits ganz warm in seinem Redefluß geworden war. Die Turner kamen die Treppe herauf, in ihrer Mitte ihren Helden mit der Schmarre, taumelnd mit glotzenden Augen. Man legte ihn auf die äußerste Spitze des Vorderdecks, an’s Bugspriet auf ein Paar aufgerollte Taue, und überließ ihn dort seinem schnarchenden Schlafe, um wieder in die Kajüte zu gehen, und auf’s Neue den Gläsern zuzusprechen.

Wir waren aufgestanden, um dem trunkenen Trupp zu rechter Zeit ausweichen zu können; als er wieder hinunter war, zog mich mein Freund, nachdem er vorher noch auf Constanz gedeutet hatte, von dem so eben die Domkuppel, in hellem Sonnenschein glänzend, sichtbar wurde, und damit uns einen herrlichen Abend am Rheinfall versprach, auf’s Neue auf die Bank, fortzufahren in dem, deß sein Herz jetzt so voll war.

„Ich glaube Dich gewiß,“ sagte er, „vertrauter als mich mit den Vorgängen auf den Feldern der verschiedenen Wissenschaften; ich will daher hier nur hinweisen auf die reformatorischen Bestrebungen der französischen Philosophen des vorigen Jahrhunderts. Du weißt, daß man ihnen und ihrem schriftstellerischen Wirken ein gut Theil des ihnen folgenden Umschwungs in den körperlichen und geistigen Erziehungsgrundsätzen zuschreibt. Vor Allem war es ja Rousseau, der in seinem „Emil“ die trefflichsten diätetischen und pädagogischen Grundsätze niederlegte. Mit ihnen war auch zugleich der Anstoß zum Umschwung vieler andern Wissenschaftszweige gegeben; so auch zu denen der Heilwissenschaft. Und in diesem wirst ja Du selber am Besten Bescheid wissen. Zwar wollt Ihr Mediciner es meist nicht haben, nichts desto weniger laß ich es mir nicht nehmen: Hahnemann nimmt einen der ersten, wenn auch nicht der würdigsten Plätze unter den Reformatoren der Arzneiwissenschaft ein. Hahnemann, dieser große und kleine Mann zugleich, groß als Denker, klein und niedrig als Charakter, räumte er nicht gehörig unter Euern veralteten empirischen Heilgrundsätzen auf, war nicht er es vor Vielen, der so kräftig und entschieden auf Vereinfachung der Diät hinwirkte, auf Verringerung Eurer oft entsetzlich gewagten Dosen heroischer Mittel hindrang, die Blutentziehungen als verwerflich hinstellte? Daß er kleinlich und erbärmlich genug dachte und handelte, seine Geistesgröße für seinen Geldbeutel auszubeuten, eine neue Heilmittel- und Heillehre aufzustellen, um damit die Wissenschaft zu bestechen und das Publikum zu betrügen – daran kann für die Geschichte wenig liegen; er hat seine Mission, die eine große und wichtige war, erfüllt, er hat dem großen Haufen die Augen geöffnet, dessen bisher unbedingten, bigotten Glauben an die Allmacht der Mediciner und die Allheilkraft der Medicamente tief erschüttert, an die Stelle des Genommenen etwas vernunft- und naturgemäßeres geboten – eben die Befolgung der uns offensichtigen Naturgesetze, – und mit allem Diesem seinen Nachfolgern in der gleichen Mission die Bahn geebnet.

Prießnitz, einem jungen Bauerssohn im österreichisch-schlesischen Gebirge, blieb es vorbehalten, eine Verhaltungsnorm für gesunde und kranke Tage nach allen Seiten hin, in jeder Beziehung und mit allen ihren Consequenzen aufzustellen. Auf dem Lande bei vorkommenden Schäden und Verwundungen, selbst bei innern Erkrankungsfällen auf seine einfachen Hausmittel (Diät und Wasser) angewiesen, hatte er bald einen ziemlichen Ruf in der Umgegend erworben. Aufgemuntert durch die selbsteigene Heilung eines gefährlichen Rippenbruchs an sich selber, und mehr noch durch die Zurufe des zu gleicher Zeit auftretenden Wasserapostels Oertel in Ansbach wuchs sein Ruf von Jahr zu Jahr, so daß nach kaum einem Decennium, in den letzten Dreißiger-Jahren er bereits alljährlich mehr denn tausend Gäste bei sich zählte. Was Prießnitz so groß hinstellte, waren vor Allem seine natürliche Begabung, sein Natur- und Scharfsinn in der Auffassung der ihm unter die Hände kommenden Krankheitsfälle, seine wenigen und von jedem Laien leicht faß- und begreifbaren natürlichen Heilmittel – die frische, freie Bergesluft, die sprudelnden klaren Bergesquellen, eine thätige Beschäftigung (theils ländliche Arbeit, theils Gehen, Bergsteigen, Turnen), und endlich eine kräftige einfache Diät, eine nüchterne Hausmannskost. Es waren hiermit alle Momente geboten, die eine sich durchaus an die Natur und ihre Gesetze lehnende Lebens- und Heilweise erfordert, daß Prießnitz sie auch zur letzteren, und zwar ausschließlich benutzte, ist sein größtes Verdienst, das wir aber wohl nicht allein auf Rechnung seiner Person, als besonders auch mehrerer ihn begünstigender glücklicher Nebenumstände schreiben müssen. Blieb ihm ja doch als Bauer, ohne wissenschaftliche Studien und Kenntnisse und ohne gesetzliche Befugniß von vornherein schon fast keine andere Wahl; dann auch wurde er durch den einmal erlangten Ruf als Wasser- und Naturarzt und durch den Enthusiasmus und vielleicht entschiedenen Eigensinn

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853). Leipzig: Ernst Keil, 1853, Seite 114. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1853)_114.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)