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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853)

„gesellschaftliche“ Laufbahn unter der Weisung seiner jungen Tante Mrs. Hays. Dr. Calomel lehrte ihm das Geheimniß, Dosen einzugeben, Mrs. Hays – Dosen einzunehmen.

Diese Dame, elegant, reich und schön, hatte großen Einfluß auf Alles, was man Ton und gute Gesellschaft nennt. In ihrem Hause drängten sich vornehme Herren und Damen; ihr Wille galt als Gesetz zunächst in ein Dutzend anderen Familien, die durch ihr bloßes Beispiel mit eisernem Scepter über die ganze „Schicht“ der guten Gesellschaft, in die sie nach englischen Kastengesetzen gehörten, herrschten. Sie war in der That ein Musterbild von Weltdame. Nie war ein Fleckchen auf ihren schneeigen Charakter gefallen. Mit eisiger Kälte und Härte verurtheilte sie jede kleinste Abweichung von dem Pfade der gesellschaftlichen Tugend. Dabei war sie unstreitig die vollkommenste Lehrerin des Lasters, die jemals als Dienerinnen der Hölle auf Erden lebten. „Den Schein retten“ ist Alles, unter dem Heiligenscheine hochkirchlicher Gläubigkeit und hohen guten Gesellschaftstones ist Alles erlaubt. Dudley war ganz verwirrt und entzückt. Wenn er den Glanz seiner Tante mit dem bescheidenen, einfachen Landmädchen verglich, sah er eine ungeheure Kluft, die ihn für immer von seiner ersten Liebe zu trennen schien. Dann schrieb er ihr wohl um so längere und glühendere Briefe, um sich selbst zu täuschen und Mary antwortete in noch ausführlicheren und tiefer und immer tiefer aus ihrem Herzen quellenderen; aber er kam dabei auf dem glänzenden Pfade des Lasters unter der vollkommensten Leitung immer weiter, bis die Briefe an Mary allmählig kürzer und seltener wurden und endlich ganz aufhörten.

Wie die arme Marie sich Tag für Tag und Nacht für Nacht abhärmte, bis ihre feinen, rothen, frischen Wangen von Thränen weggewaschen waren – die Leiden eines solchen Herzens, immer still verzehrend und nagend, ohne Abwechselung und Linderung, im Gegentheil nur gesteigert und verschärft durch gelegentliches rohes, gutgemeintes Dreinreden und „Keifen“ der Aeltern, welche die Quelle bald ahnten, das läßt sich schwerlich schildern. Der Sommer verbleichte zum Herbste, der Herbst fror zum Winter zusammen, Tage und Tage, Wochen und Wochen, Monde und Jahreszeiten waren in träger, schwerer Langsamkeit dahingegangen ohne ein Wort von Dudley. Nur zuweilen hatten die Aeltern absichtlich Mittheilungen über ihn besprochen, wie er in London allmählig ein Trunkenbold, Schwelger und Lustjäger geworden, und wie er auf diesem Wege die reißendsten Fortschritte mache. Nach einer solchen Beurtheilung ihres unbefleckten Ideales, die mit besonders rohen Zurechtweisungen begleitet wurde, begab sie sich eines Nachts in ihr Schlafzimmer, stürzte schluchzend auf die Kniee, schrieb einige Zeilen an ihre Aeltern, hüllte sich in die nöthigsten Kleider und eilte in die kalte, finstre Nacht hinaus. Sie wollte fort, sie mußte fort, sie wollte Dudley sehen, ihn zurückrufen in die Zeit ihrer Unschuld, seiner Poesie, seiner Reinheit, seiner Liebe. Daheim war keine Hoffnung mehr, kein Leben.

Durch die lange, schreckliche, eisige Nacht hin eilte die arme Unglückliche immer die Straße hinauf, die in die Hauptstadt führt, durch weite starre Felder und durch Hügel und Thäler, die sich alle meilenweit auszustrecken und mit ihr zu gehen schienen, um sie nicht vorwärts kommen zu lassen. Und wie die dürren Gerippe riesiger Bäume im Winde zitterten und krachend ihre dürren Arme gegeneinander rieben!

Ruhige Pächtereien lagen schlafend dazwischen, hier und da noch mit einem schwachen Lichte aufblickend, vom großen Hunde bewacht, der eifriger und eifriger bellte, je näher sie kam, und sich erst lange nach dem Verhallen der letzten Schritte zufrieden gab. Durch Hügel und Thal, durch Wald und Feld immer trieb sie eine innere dämonische Gewalt vorwärts. Keine Musik, kein Geisterspuk der Nacht erschreckte sie. Die Wetterfahnen kreischten vergebens, alte Bäume zogen ihr vergebens drohende Gesichter. Sie sah nichts davon, ihre ganze, fieberisch zitternde, schmerzgequälte Seele war bereits in London und suchte ängstlich in den Straßenlabyrinthen herum, das Haus zu finden, wo er wohnte. Das kleine furchtsame Alltagsmädchen schritt als weibliche Heldin durch die Nacht. Der Morgen dämmerte herauf, die Sonne stieg empor, ohne ihre Pflicht zu thun, Wärme auf das ermüdete, vor Kälte und innerm Fieber zitternde Mädchen herabzusenden; endlich ward es auch Mittag – sie wankte, schwankte, ächzte immer noch vorwärts, doch langsamer und immer mühseliger, bis ein Wagen, der langsam vor ihr vorbei gefahren war, still stand und sie zu erwarten schien. Ein alter, glatzköpfiger Gentlemen, in seinem Buffalo-Pelze fast ganz unsichtbar, trippelte herbei und lud das arme, schöne, von Frost, Hunger und innern Leiden zerquälte Wesen mit dem herzlichsten Tone echter Theilnahme ein, sich seines Wagens mit zu bedienen. Sie folgte mechanisch, und so kam sie endlich in einem Hotel Londons an, ohne zu wissen wie. Wie öfter auf dem Wagen, zwang sie auch hier der alte Gentlemen wieder, etwas zu genießen und den Kaffee beinahe kochendheiß zu trinken, bot ihr alle mögliche Hülfe, alle möglichen Rathschläge, allen möglichen Schutz an, ohne daß das arme Wesen wußte, wie sie Alles abwehren sollte. Die uneigennützigste, seltenste Theilnahme des alten edeln Herrn, wie es deren nur in England geben soll, quälte sie nur. Sie bat endlich um etwas Frist; sie werde vielleicht bald im Stande sein, sich ihm vollständig mitzutheilen und ihm für seine edele, herzliche Theilnahme zu danken.

Der Alte ging. Sie blieb im Gastzimmer allein zurück, am Fenster stehend, trostlos auf die großen Häuser drüben und das unaufhörliche, kalte Durcheinandereilen von Wagen und Menschen blickend. Sie versuchte einen Entschluß zu fassen. Dabei wurde ihr die quälende Wirklichkeit ihrer hilflosen Lage immer deutlicher und legte sich auf ihr Herz, wie eine erdrückende Riesenlast. Der Kopf brannte, alle Glieder schmerzten und zitterten im Fieber, und Nichts konnte sie erwärmen. Endlich fragte sie furchtsam einen Kellner, ob er wisse, wo der Dr. Calomel wohne?

Der Kellner machte eine lange Beschreibung, wie das Haus zu finden sei, ging sogar selbst bis zur nächsten Ecke mit und zählte ihr dann die andern Ecken und Straßen vor, die rechts und links, krumm und grade, grade auf das glänzende Haus des berühmten Doctors zuführten.

So verwickelt der Weg war, fand sie ihn doch. Sie stieg die weite Halle empor, die zur ersten Eingangsthür führte, klopfte leise und ward von einem alten, magern

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853). Leipzig: Ernst Keil, 1853, Seite 201. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1853)_201.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)