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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853)

Verbrecherin, eine Mörderin, noch Sinn und Gefühl für die sanfte Anmuth der Natur, für die großartige Schönheit des gestirnten Himmels sich bewahrt hatte.

Clemence versicherte, sich sehr wohl zu befinden, obwohl ihre Gestalt immer ätherischer, ihre Wangen immer bleicher und durchsichtiger wurden. Sie schien Vergnügen an den kleinen Ausflügen, die wir in die ländliche Umgebung von Straßburg machten, zu finden und lächelte, wenn ich sie bat, sich mehr zu schonen. Eines Tages fuhren wir in Begleitung mit Clemence’s Vetter nach dem Odilienberg, ein Ort nicht ohne Berühmtheit, der häufig besucht ward. Nachdem wir die Reste der alten römischen Straße und die Heidenmauer in Augenschein genommen, traten wir in die alte Kapelle, um auszuruhen. Es saßen bereits zwei junge Männer lesend darin. Der Eine von ihnen erregte durch seine Gestalt und edle Gesichtsbildung unsere Aufmerksamkeit. Der junge Jainville, unser Begleiter, sagte, es sei ein gewisser Herr Goethe aus Frankfurt und stellte uns später dem jungem Manne, den er von Straßburg her kannte, vor. Es entspann sich bald eine lebhafte Unterhaltung mit den beiden jungen Herren. Der Eine war sanft und fast schüchtern, redete wenig; aber Herr Goethe war lebhafter. Die hohe jugendliche Gestalt, die edle freie Miene, die schöngebogene kühne Nase, die großen durchdringenden braunen Augen, die hohe Stirn, durch die damalige Mode, das Haar aufwärts zu kämmen, noch höher gemacht, verfehlten nicht, besonderes Interesse für diesen jungen Mann hervorzurufen.

In der Klosterkirche befanden sich einige nicht eben vorzügliche Gemälde. Während die Andern mit ihrer Besichtigung beschäftigt waren, las ich die unterschiedlichen französischen und deutschen Zeilen, die hier und da in die Fenster und in das Holz eines großen Beichtstuhles eingegraben waren. In die Ecke eines Fensters hatte Jemand geschrieben:

„In deinem Tempel, o Gott –
Suchte ich Schutz vor der Liebe –
Aber sie verfolgt mich zum Altar
Und mischt sich in meine Gebete.
Libera de morte me aeterna, Domine!“

In dem Betstuhle stand:

„Nach heißem Kampfe, heißem Schmerz,
Nach mühevollen Tagen
Laß mich, o Gott, mein müdes Herz
Zu Deinem Altar tragen.“

Doch kehrten meine Blicke immer wieder zu dem trostlosen Hülferuf der Liebe zurück, einer Liebe, die sogar dies Gebet nicht zu verscheuchen vermochte. Wie paßten diese Worte so ganz auf mich. Meine Lippen preßten sich vor Schmerz zusammen; meine Augen trübten sich von verborgenem Weh. So stand ich lange sinnend vor dem Fenster, bis mich Clemence aus meiner Träumerei weckte.

In der Nähe des Klosters befindet sich eine Art Terrasse, zu deren Füßen ein fürchterlicher Abgrund gähnt, von wo man aber die entzückendste Aussicht auf die ganze große reiche Landschaft ringsum genießt. Die ganze fruchtbare Gegend mit Städten, Bergen, Dörfern, Wäldern und Gewässern liegt malerisch vor uns ausgebreitet, und wie ein Leuchtthurm aus Klippen ragt der ungeheure Münsterthurm aus dem Häusergewimmel hervor. Clemence blickte zitternd in die fürchterliche Tiefe. „Welch schrecklicher Tod,“ sagte sie, „hier hinunterzustürzen.“ Mich aber überkam ein wilder Drang nach so jähem Tode. Der Abgrund sprach ordentlich verlockend. Ein Sprung und Alles ist vorbei, sprach es in mir. Herr Goethe, der neben mir stand, schien meine Gedanken zu errathen. Er sprach: „diese schwindelnde Tiefe, wie die unergründlichen Fluthen, üben beide eine Anziehungskraft aus auf Unglückliche.“ Ich wurde roth und wieder sehr bleich. Er schien das jedoch nicht zu bemerken.

Bei später Abendzeit kehrten wir nach Barr, wo wir übernachteten, zurück.

Seit diesem Tage kamen wir oft mit dem jungen Goethe, dessen Gespräche uns wunderbar erregten und erquickten, zusammen. In Folge einer Erkältung ward Clemence’s Gesundheit wieder heftig angegriffen. Sie befand sich bereits seit zwei Wochen sehr unwohl. Plötzlich erschreckte mich der Gedanke, sie könne in Straßburg sterben. Ich freute mich jetzt nicht mehr über den Tod meiner Nebenbuhlerin. Ihre unbegrenzte Sanftmuth und Liebe hatten meinen Haß ertödtet und mein Herz sanfter gestimmt. Vielleicht hatte auch Falk's Einfluß in der letztern Zeit unseres Beisammenseins veredlend auf mich gewirkt. Genug, ich wünschte jetzt eben so sehr ihr Leben als früher ihren Tod. Eine leise Ahnung von der Erhabenheit stiller Entsagung durchklang mein Innerstes. „Dein Werk ist es,“ sprach mein Gewissen. „daß sie so früh stirbt. Du hast so oft und aus vollem Herzen ihren Tod gewünscht. Deine Verwünschungen, der Haß, den Du gesäet, sind aufgegangen und beginnen ihre giftigen Früchte zu tragen.“ Eine tiefe, schwere Melancholie bemächtigte sich meiner innersten Seele. Eine unwiderstehliche Sehnsucht, der Freundin voranzugehen, kam über mich. Diese unerträgliche Stimmung erreichte eines Abends eine solche Höhe, daß ich, nachdem ich noch Clemence wohl verpflegt und der Obhut ihrer Tante überlassen, raschen entschlossenen Schrittes nach dem Münster eilte. Aller Qualen mit einem Male ledig zu werden, war der beständige Gedanke, der mich gänzlich erfüllte. Unverdrossen stieg ich Treppe auf Treppe in dem ungeheuren Bauwerke. Endlich stand ich oben an der Stelle, wo kein schützendes Geländer abhält, sich in die fürchterliche Tiefe zu stürzen. Ohne mich umzusehen, betrat ich die Schwelle des Todes, warf noch einen scheuen Blick in die im Abenddunkel ergrauende Welt und schleuderte Hut und Umschlagetuch hinter mich und ein nur augenblicklicher aber entsetzlicher Kampf begann. Der Gedanke an einen Gott, den ich immer so beharrlich geläugnet, erwachte plötzlich; aber eine trotzige Stimme in mir rief: „Muth! Muth!“ Ich beugte mich vorwärts: Gott habe Mitleid … wollte ich sagen, als mich ein kräftiger Arm vom Abgrunde hinweg riß. Starr und verwirrt blickte ich in das Gesicht desjenigen, der sich erkühnte, zwischen mir und den Tod zu treten. Zwei leuchtende Augen blickten mich ernst strafend, durchdringend und doch mitleidvoll an. Ich erkannte den jungen Goethe. „Zurück!“ herrschte er in gebietendem Tone, und von seinem

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853). Leipzig: Ernst Keil, 1853, Seite 465. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1853)_465.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)