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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853)

dieser Wirksamkeit ward mir geraume Zeit keine Muse, während der geschäfts- und geräuschvollen Tageszeit über meine dunkle Vergangenheit nachzudenken und mich mit Gewissensvorwürfen zu quälen; aber des Nachts, wenn Alles still ringsum, wenn die Seele in sich selbst zurückkehrte, stand auch der gräßliche Schatten da. Düster und unwiderruflich stand er da und die Stimme des innern Gerichts rief: „Glaube nicht, mit dem, was Du bis jetzt Gutes gethan, Dich zu entsühnen.“ Und wenn sich mein ruheloses Herz innig nach Constantin sehnte, da war es immer, als stelle sich ein schauerliches Etwas dazwischen.

So waren wohl anderthalb Jahre seit Clemence’s Tode vergangen. Ein Frühling, so schön, so reich, wie er nur immer über diese paradiesische Gegend herabsinken kann, umlächelte mich und überschüttete mein gebeugtes Haupt mit Blüthen, aber mein Herz frohlockte nicht mehr wie einst dem Frühlinge entgegen.

Es war am ersten Pfingstfeiertage, als ich langsam dem Walde zuwandelte, um die eine halbe Stunde entfernte Kirche zu besuchen. Es war ein Morgen so still, so klar, so lieblich. Feierliches Rauschen umfing mich im Walde. Aus den Zweigen tönte der Himmelsgesang der Vögel. Das Lied hieß: Lobsinget dem Herrn! Von der einen Seite, wo sich der Wald lichtete, tönte Glockengeläute. Hoch und bläulich, von leisem Duft umzogen, ruhten die fernen Berge und der im Thale dahinziehende Fluß strahlte wie flüssiges Silber. Grüner Sammet überzog die Wiesenflur. Weiße, blaue, rothe Steinchen guckten freundlich zum blauen Himmel. Ich entsann mich, wie ich an einem eben so schönen Pfingstmorgen einst mit Constantin in den Wald gegangen war, um Blumen und Erdbeeren zu suchen. Damals ging ich – sorglos unschuldig – an der Hand des Jünglings, eine helle rosige Gegenwart und Zukunft vor mir. Schon damals liebte ich ihn, wie ein Kind einen milden und doch starken Männergeist lieben kann. Sonst und jetzt! welch ein Unterschied. Auch heute liebte ich ihn noch, aber mit einer andern Liebe, mit glühenden, trostlosen, nagenden Gefühlen. Eine weiche Stimmung kam über mich. Ich weinte und fühlte mich fast erdrückt von der Last der Erinnerung. „Constantin! ach, Constantin!“ rief ich laut durch den einsamen Wald, als ob meine klagende Stimme ihn hätte herbeizaubern können. Aber Alles blieb still. Nur Blätterrauschen, Vogelstimmen und eintöniges Murmeln des Waldbaches zwischen traurig-dunkeln Föhren. Ich setzte mich unter eine alte graue Eiche in’s weiche Moos und schrieb unter einzelnen herabtropfenden Thränen folgendes Gedicht, mein erstes und mein letztes:

Hör’, wie der Frühling ruft mit tausend Stimmen,
Sieh, wie in sanfter, luft’ger Silberpracht
Die leichten Wolken still dort oben schwimmen.
Wie mich umgrünt die duft’ge Waldesnacht.

Ach freudenlos steh’ ich in all’ dem Glanze,
Umsonst lacht mir das Morgensonnenlicht.
Umsonst schmückt sich die Au’ mit buntem Kranze,
Kein Lenz erhellt mein trauernd Angesicht.

Ein Wunsch, ein einz’ger bebt durch meine Seele,
Ein Schmerzensruf nach Ruhe hier im Thal,
Vergessen möcht’ ich alle Schuld und Fehle,
Das Laster und der Lieb’ Erinn’rungsqual!

Wann sinkt mein Abendstern? O daß ich schliefe
Im stillen Moose hier, in grüner Nacht,
In jener Grabesruh’, in jener stillen Tiefe,
Aus der man nicht mehr auferwacht.

Ich barg das beschriebene Blatt in meinem Busen. Mir war, als habe ich dem Walde gebeichtet. Plötzlich tönten entfernte Schritte. Ich blickte auf und mußte meine Arme um einen Baum schlagen, um nicht umzusinken. Wenige Schritte vor mir stand – Constantin. „Leonore! Constantin!“ riefen wir Beide zugleich. Er eilte mit ausgebreiteten Armen auf mich zu, als wolle er mich an’s Herz drücken. Ich aber schlang gleichsam Hülfe suchend meinen Arm fester um den Baum und rief: „Wen suchest Du?“ „Leonore,“ fragte er in weichem Tone, „Du fragst, wen ich suche? Dich nur allein! Dich! Man sagte mir im Schlosse, Du seiest in den Wald gegangen. Siehe, ich komme heute im Namen der mächtigen Liebe – im Namen unserer verklärten Clemence, deren Wunsch es war, uns Beide vereint zu wissen, und frage Dich: Willst Du mein Weib sein?“

Himmel und Erde entschwanden meinen umnebelten Blicken; ich wankte und fühlte mich von seinen Armen umschlossen, an seine Brust gedrückt. Er sprach kein Wort und küßte nur immer und immer meine Stirn und meine geschlossenen Augen. Ich genoß in berauschendem Entzücken einige Sekunden das selige Gefühl seiner Gegenwart und seiner Liebe. Aber was schreckte mich plötzlich aus meinem Himmel? Eine unsichtbare eiskalte Hand legte sich zwischen uns und zog mich von ihm. Eine Grabesstimme raunte das Wort: Mörderin!

„Laß mich los, Constantin!“ stöhnte ich, mich seinen Armen entwindend. „Mein Gott, was ist Dir, Leonore?“ rief er erschrocken und vorwurfsvoll. „Liebst Du mich nicht mehr, Leonore?“

„Ach, nur allzusehr,“ rief ich in überströmendem Schmerze. „Könnte ich an Deinem Herzen sterben, wie wohl wäre mir. Aber die Deine, Constantin, kann ich nicht werden. Ich darf nicht an Deiner Seite leben und mit Dir in die Welt zurückkehren. Nein, ich darf nicht. Ich darf nicht.“

Er erblaßte und verschwendete die leidenschaftlichsten Bitten, die liebevollsten Vorstellungen. Er beschwor mich bei seinem und meinem Glücke, bei Clemence’s Schatten – vergebens, ich blieb starr und fest. Gott hatte mir in dem Augenblicke, als ich in Constantin’s Armen ruhte, den Weg zur Buße gezeigt und mir den dunkeln dornigen Pfad erhellt, den ich hinfort wandeln sollte. Ich sank am Fuße der Eiche in die Knie. „Constantin!“ rief ich mit flehender Innigkeit, „Constantin! einzig Geliebter! foltere mein Herz nicht länger. Etwas, das ich Dir nicht nennen kann, trennt uns. Ich habe dem Himmel darum gelobt, keines Mannes Weib zu werden. Nimmer darf ich im Schatten Deiner Liebe ausruhen. Meine Ruhe hienieden ist verwirkt. Das schwöre ich Dir bei Gott dem Allmächtigen.“

Bei meinen leidenschaftlichen Worten war der Papierstreif

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853). Leipzig: Ernst Keil, 1853, Seite 476. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1853)_476.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)